15. Kapitel

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15. Kapitel - Allein sein

   

Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment.

- Buddha

Ich schluckte meine Trauer herunter und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie nah mir seine Worte gingen. Mitgenommen sah ich ihm nach, wie er zum Fahrstuhl ging und dann hinter den sich schließenden Türen verschwand.

„Was ist mit Leo?", hörte ich plötzlich eine dunkle Stimmer hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um. Kyle sah mich finster an. Er war sauer. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er runzelte argwöhnisch die Stirn. Ich seufzte innerlich. Warum zum Teufel musste er das hören?

„Ich dachte wir hätten das geklärt?", sagte er und zog mich auf die Seite, als einige Besucher an uns vorbeiliefen.

„Ja. Ich wollte nur nicht ... ich wollte dich nicht mit meinen Sorgen belasten", gestand ich leise.

Kyle umfasste mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen.

„Du belastest mich nicht. Also?"

Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Wie sollte ich ihm klarmachen, dass mein Bruder irgendwo da draußen war und ich hier an der Ungewissheit über seinen Aufenthaltsort und seinen Gesundheitszustand zerbrach?

„Er wird vermisst", sagte ich schlicht.

Ich hatte erwartet, dass sein Zorn verfliegen würde, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Aber das tat er nicht. Ganz im Gegenteil.

„Und das sagst du mir erst jetzt? Wie lange schon?", bohrte er nach.

„Seit gestern."

Kyle ließ mich los und starrte mich an. Er schien zu begreifen, dass mein gestriges Verhalten daher gerührt hatte. Beschämt drehte ich mich von ihm weg. Vermutlich würde er mir jetzt sagen, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wolle und dass ich ihn nur benutzt hätte. Vielleicht stimmte das sogar.

Kyle packte mich an den Schultern und drehte mich wieder zu ihm um. Ich starrte konsequent auf meine ausgelatschten Schuhe. Schuldgefühle hatte ich auch so schon genügend. Ich musste nicht noch seinen anklagenden Blick sehen, damit sie sich verstärkten.

„Deshalb warst du gestern so. Deshalb ist deine Mutter hier", stellte er fest.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sämtliche Wärme in mir war verschwunden. Jetzt würde er mit Sicherheit gehen.

„Lilly?", fragte er.

Meinen Namen aus seinem Mund zu hören jagte mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Was es mir noch schwerer machte. Er wollte, dass ich ihn ansah. Bestimmt damit er sehen konnte wie mein Herz brach. Ich tat ihm den Gefallen, auch wenn es wehtat.

„Es war alles echt", flüsterte ich.

Überrascht sah er mich an. Damit hatte er nicht gerechnet. Das war offensichtlich. Ich hatte es selbst nicht. Manchmal war mein Mund einfach schneller als mein Kopf.

Eine Krankenschwester kam an uns vorbei und musterte uns. Verärgert sah ich sie an. Hatte sie nichts Besseres zu tun, als fremde Leute zu belauschen?

„Ich weiß", murmelte Kyle, der die Schwester auch bemerkt hatte.

Jetzt war es an mir erstaunt zu blicken.

„Komm her", flüsterte er und zog mich an sich.

Ich schlang die Arme um ihn und fühlte mich plötzlich ganz klein und zerbrechlich, aber auch unendlich geborgen und sicher. Kyle küsste mich aufs Haar und wisperte an meinem Ohr:

„Tut mir leid."

„Schon gut. Mir auch", flüsterte ich an seinem Hals.

Mit einer Hand auf seiner Brust schob ich ihn ein Stück von mir, um ihn ansehen zu können. Es war seltsam. Kyle schien mich auf eine Art und Weise zu verstehen, die fast schon unheimlich war. Ganz so, als würde er mich schon kennen.

„Willst du noch bleiben?", fragte er mich.

Ich warf einen Blick zu der Tür, hinter der meine Mum lag. Dann schüttelte ich den Kopf.

„Ich kann nicht."

Meine Finger suchten seine und verflochten sich mit ihnen. Beruhigend zeichnete Kyle mit dem Daumen kleine Kreise auf meiner Haut.

„Wir können ja morgen wiederkommen", schlug er vor.

Dann zog er mich mit sich zum Fahrstuhl. Er rief den Aufzug und schob mich dann sanft hinein. Die Türen schlossen sich und mit ihnen ein Teil von mir. Ausdruckslos starrte ich in die Spiegel an der Wand und versank in meinen Gedanken.

Morgen. Morgen war Montag. Morgen war Schule. Morgen musste mein Dad arbeiten. Morgen würde ich Hanna von allem erzählen. Morgen musste ich bis nachmittags warten, um Kyle und meine Mum zu sehen.

Morgen.

Das waren noch über 14 Stunden, bis es morgen war.

Ich setzte Kyle vor seinem Haus ab und fuhr nach Hause. Langsam schlich ich zur Tür. Ich wollte nicht ins Haus gehen. Leo würde nicht auf mich warten. Genauso wenig wie meine Mutter. Und Dad saß bestimmt niedergeschlagen auf dem Sofa.

Aber ich musste reingehen. Trotz allem. Musste etwas kochen. Musste meinen Dad zwingen etwas zu essen. Ihm sagen, dass er ins Bett gehen soll. Musste meine Sachen für die Schule zusammensuchen. Musste mich umziehen. Musste ins Bett gehen. Musste in einem halbleeren Haus schlafen. Musste ganz alleine sein.

The New MeWhere stories live. Discover now