27. Kapitel

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27. Kapitel – Unterhaltung im Park

Wer mit mir reden will, der darf nicht bloß seine eigene Meinung hören wollen.

-Wilhelm Raabe

Ich steckte mein Handy in eine der hinteren Hosentaschen, weil die vorderen zu klein waren, kämmte mir die Haare, sah in den Spiegel und stellte fest, dass ich definitiv etwas anderes anziehen musste. Ich konnte unmöglich in meinen Kuschelklamotten draußen rumlaufen, welche ich meist anzog, sobald ich zu Hause war. Schnell kramte ich eine Jeans Hot-Pants aus dem Kleiderschrank, zusammen mit einem weißen Top. Jeans und Weiß ging in Grunde immer. Im Anschluss zog ich mir noch meine weißen Chucks an. Im Flur schnappte ich mir die Haustürschlüssel, schloss hinter mir ab und schlenderte dann zum Park. Die meisten in dieser Gegend, ließen ihre Türen zwar unverschlossen, doch gerade nach dem heutigen Vorfall, war ich entschieden gegen so viel Vertrauen, gegenüber meinen Mitbürgern.

Immer wieder sah ich mich um. Ich wurde dieses mulmige Gefühl einfach nicht los, das Kyles Einbruch bei mir hinterlassen hatte. Als hätte er mir etwas genommen, das ich nie mehr wieder bekommen würde. Auf der Straße verstärkte sich das Gefühl noch. Ich fühlte mich beobachtet. Aber so oft ich mich auch umdrehte und Ausschau hielt, ich konnte Kyle nirgends entdecken.

‚Ich dreh noch durch', dachte ich und schüttelte ärgerlich den Kopf.

Am Eingang des Parks sah ich auf die Uhr. Ich hatte lediglich 15 Minuten für den Weg gebraucht. Mir blieb somit noch genug Zeit, um zum Brunnen zu gelangen. Als ich den großen Brunnen aus Marmor erreichte, wartete Alex schon auf mich. Es saß auf dem Rand, hatte die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt, trug ein schwarzes T-Shirt, und seine blonden Haare sahen aus, wie am Abend davor. Hin und wieder schaute er sich suchend um. Ich hob eine Hand um auf mich aufmerksam zu machen. Alex entdeckte mich und kam lächelnd auf mich zu.

„Hallo", sagte er und umarmte mich zur Begrüßung.

„Hey", erwiderte ich und drückte ihn einmal fest.

Er ließ mich wieder los und setzte dann eine ernste Miene auf.

„Also? Jetzt erzähl mal, was da los war."

Wir liefen ziellos durch den Park, während ich überlegte. Ich seufzte. Wo sollte ich anfangen? Als ich mir darüber im Klaren war, dass ich Alex nicht alles erzählen wollte, fing ich nachdenklich an:

„Kyle, also mein Ex, hat bei mir geklingelt, als ich gerade fertig mit Essen war. Mein Vater war schon gegangen, also war ich alleine. Ich wollte ihm nicht aufmachen, aber er ist hartnäckig geblieben. Immer wieder hat er geklingelt, gegen die Tür gehämmert und geschrien, ich solle ihm aufmachen. Irgendwann ist es leise geworden. Ich dachte er wäre weg, aber da hab ich mich geirrt."

Ich hielt kurz inne, weil Alex eine Augenbraue hob und mich kritisch ansah.

„Was?", fragte ich verunsichert.

„Nichts. Erzähl weiter", meinte Alex nur, sah dabei aber aus, als müsste er sich ernsthaft eine Bemerkung verkneifen.

„Okay. Also er ist durch mein offenes Zimmerfenster gekommen und dann ..."

Ich schluckte, als ich mich an Kyles Hand erinnerte, wie die an meinem Hals gelegen und zugedrückt hatte.

„...dann hat er mich, wie soll ich sagen? Er hat mich irgendwie angegriffen."

„Was soll das heißen? Irgendwie angegriffen? Was hat er gemacht?", bohrte Alex weiter.

„Er hat mich gegen eine Wand gedrückt, eine Hand um den Hals gelegt und mit der anderen meine Hände über dem Kopf zusammen gehalten, damit ich mich nicht wehren konnte", erklärte ich.

„Wie bitte?", fragte Alex, offensichtlich schockiert.

Er blieb stehen und hinderte mich am weitergehen. Dann beugte er sich zu mir runter, schob meine Haare beiseite und fuhr sanft über meinen Hals, während er ihn besorgt musterte. Beschämt fuhr ich selbst mit einer Hand über meinen Hals. Alex richtete sich auf und sah mich an. Seine Hand ruhte nach wie vor leicht an meinem Hals, als er fragte:

„Und dann?"

Ich starrte zu Boden, als mir Kyles unbändige Wut und der Hass in seinen Augen in den Sinn kam.

„Er hat mich angeschrien und gefragt, was das gestern sollte. Wir haben gestritten und uns gegenseitig angebrüllt. Irgendwann konnte ich mich befreien und mir mein Handy schnappen. Ich hab ihm gedroht die Polizei anzurufen, wenn er nicht sofort verschwindet. Daraufhin ist er gegangen. Aber er hat mir gedroht. Er sagte: Wir sehen uns wieder!"

Ein Zittern fuhr durch meinen Körper. Alex zu erzählen, was passiert war, wühlte mich mehr auf, als ich angenommen hatte. Ein Schluchzen entwich mir und ich schnappte nach Luft. Alex zog mich an sich und schloss mich in die Arme. Ich umklammerte ihn fest, während ich gegen die Tränen ankämpfte, die sich langsam in meinen Augen sammelten. Mein Körper bebte. Alex flüsterte beruhigend:

„Es ist alles gut. Es ist vorbei", dann drückte er mir einen Kuss auf den Scheitel.

Seine Worte machten mich ruhiger. Er hatte Recht. Es ist vorbei. Kyle ist weg und ich war nicht alleine zu Hause, sondern im Park und lag in Alexanders Armen. Die Angst verflog allmählich und ich fühlte mich sicher und geborgen. Alex hielt mich weiter im Arm, bis ich mich vollkommen beruhigt hatte. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel, ehe ich mich aus seiner Umarmung befreite. Alex sah noch immer besorgt aus.

„Es geht schon wieder", murmelte ich und lächelte ihn an.

Alex schüttelte den Kopf.

„Du solltest zur Polizei gehen. Zeig ihn an."

„Nein. Es ist ja nichts passiert. Außerdem ...", ich ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

„Außerdem liebst du ihn noch, richtig?", beendete er.

Ich nickte schuldbewusst.

„Ich weiß selbst, dass das idiotisch ist, aber ... auch wenn es für ihn nur ein Spiel war, für mich war es echt. Und sosehr ich ihn gerne hassen würde, ich kann es einfach nicht", versuchte ich mich zu erklären.

Alex nickte mitfühlend. Dann hielt er inne, sah mich nachdenklich an und fragte:

„Moment, was soll das heißen: Für ihn war es nur ein Spiel?"

Ich seufzte. Verdammt! Wieso konnte ich nicht einfach meine Klappe halten? Ich wollte ihm doch nicht alles erzählen. Ich kannte ihn kaum. Aber genau das war der Punkt. Ich kannte ihn nicht. Ihm konnte ich die ganze Wahrheit sagen, ohne fürchten zu müssen, dass er loszog um irgendetwas Dummes zu machen.

„Er hat mich benutzt, um sich an meinem Vater zu rächen. Er war der Meinung, dass wenn er mir wehtut, er meinem Vater wehtun würde. Das hätte auch funktioniert, wenn der momentan nicht die halbe Zeit betrunken wäre und die andere bei meiner Mutter im Krankenhaus."

Verwirrt sah Alex mich an.

„Okay, jetzt versteh ich gar nichts mehr."

Ich seufzte erneut, deutete auf eine Parkbank und fing an ihm die ganze verworrene Geschichte zu erzählen, während wir dasaßen und die Sonne langsam über den Horizont zog.

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