13. Kapitel

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13. Kapitel - Ich bin nicht alleine

Das schönste Geschenk, das die Götter den Menschen verliehen, ist die Freundschaft. Mögen manche auch den Reichtum, die Macht, die Ehre oder die Gesundheit preisen, ich ziehe Freundschaft und Weisheit allen anderen Gütern vor. Im Glück, wie im Unglück, verlangt der Mensch am meisten nach Freundschaft.

- Marcus Tullius Cicero

Ich hörte Kyles Herz schlagen. Es war schnell, als wäre er aufgeregt. Dennoch war es ein wundervoller Klang, der mich langsam zur Ruhe brachte. Mein Atem ging flacher, meine Hände hörten auf zu zittern, die Tränen blieben, wo sie waren und ich war froh darüber. Kyles Herz raste noch immer, als ich zu ihm aufsah. Er musterte mich besorgt und strich mir stetig übers Haar. Er fragte mich nicht danach, aber ich wusste, dass er den Grund für mein Verhalten erfahren wollte. Es liegt in der Natur des Menschen nach Antworten zu suchen und ich bezweifelte, dass er da eine Ausnahme bildete.

Zögernd richtete ich mich auf und lehnte mich gegen die Wand. Kyle folgte meinem Beispiel. Er setzte sich neben mich und griff nach meiner Hand. Erst wollte ich es zulassen, schüttelte ihn dann aber doch ab. Ich konnte nicht nachdenken, wenn er mir so nah war UND meine Hand hielt. Vielleicht war Kyle durch mein abweisendes Verhalten verletzt, aber wenn dem so war, ließ er es sich nicht anmerken. Er faltete seine Hände im Schoß und blickte mich abwartend an. Ich zog die Ärmel meines Pullis über die Hände und versteckte sie im weichen Stoff.

„Ich ... also gestern da ...", fing ich an.

Irgendwie war ich nicht in der Lage, zusammenhängende Sätze zu bilden. Also rückte ich ein Stück von ihm ab, damit wir uns nicht mehr berührten, in der Hoffnung, dass es dann leichter sein würde. Ich atmete einmal tief durch und fing von vorne an:

„Ich bin gestern gegangen, weil es meiner Mutter nicht gut ging. Als ich hier ankam, lag sie auf dem Sofa und sah ... sie sah nicht gut aus. Der Arzt war da und hat ihr etwas verabreicht. Aber er hat darauf hingewiesen, dass sie ins Krankenhaus muss, wenn sich ihr Zustand nicht bessert. Und ...", ich rang um Fassung.

„...und heute Morgen ist mein Dad mit ihr zum Krankenhaus gefahren."

Ich starrte auf meine aus den Ärmeln herausschauenden Nägel mit dem abblätternden Lack und wartete auf eine Reaktion. Ansehen wollte ich Kyle nicht. Dafür würde ich noch einen Augenblick brauchen.

„Das tut mir Leid", sagte Kyle leise.

Die Aufrichtigkeit seiner Worte traf mich mitten ins Herz. Ich wandte den Kopf in seine Richtung und sah langsam zu ihm auf. Mitfühlend schaute er mich an. Kyle streckte eine Hand nach mir aus, zog sie dann aber zurück, kurz bevor er mich berührte. Er war verunsichert. Ich nicht. Ich rutschte wieder zu ihm zurück. Ohne darüber nachzudenken, hob ich seine Hände, setzte mich auf seinen Schoß und nahm sein Gesicht vorsichtig in beide Hände. Suchend sah ich in seine Augen. Und ich fand, wonach ich mich verzehrte: Sehnsucht. Behutsam hauchte ich einen Kuss auf seine Lippen. Kyle erwiderte ihn. Nach und nach wurde der Kuss fordernder. Er wollte mehr. Eindeutig. Zu meiner eigenen Schande musste ich mir eingestehen, dass ich das auch wollte. Meine Mutter lag im Krankenhaus und ich küsste einen Typen, den ich kaum kannte. Von mir selbst enttäuscht, löste ich mich von ihm. Ich wollte von seinem Schoß rutschen, doch er ließ mich nicht. Sanft, aber bestimmt, hielt er mich fest.

„Lilly. Ich werde dich nicht loslassen, bevor du mir nicht sagst, was du dir eigentlich denkst", sagte er.

Verwirrt sah ich ihn an. Bitte, was?

„Erst machst du mich neugierig, dann stößt du mich von dir. Du lässt dich auf mich ein, nur um mich dann wieder zurückzuweisen. Von deinen Launen bekommt man fast ein Schleudertrauma", erklärte er, nicht ohne ein wenig Wut.

Ich sah ihn wohl leicht verschreckt an. Bestimmt tat ich das. Denn irgendwie machte er mir gerade etwas Angst. Sofort überlegte ein Teil von mir, wo mein Vater seine Waffen aufbewahrte. Wer konnte schon wissen, ob ich mich nicht vielleicht verteidigen musste?

„Hör mal", begann er von neuem mit ruhiger Stimme und griff nach meinen Händen.

„Ich will dich kennen lernen. Zeit mit dir verbringen. Für dich da sein. Aber du musst mich auch lassen."

Nervös sah ich ihn an. Okay. Das war Angst einflößend. Aber nicht so, wie ich zuerst dachte.

Ich überlegte: Er und ich? Wirklich? So richtig? Ich weiß nicht. Warum passiert das alles ausgerechnet jetzt und alles auf einmal?

Unwillkürlich musste ich schlucken. Kyle legte den Kopf leicht schief und strich mir über die Wange. Sofort schmolz mein Herz dahin. Verdammt.

„Na schön", murmelte ich.

Kyle sah irgendwie erleichtert aus. Er küsste mich auf die Stirn und ließ mich dann los, damit ich aufstehen konnte. Was ich auch tat, jedoch nur, um dann verloren in der Gegend herum zu stehen und mich zu fragen, was ich noch mal machen wollte. Richtig. Ich hatte bloß von Kyle weggewollt. Aber jetzt ...

„My body is a cage...", dudelte plötzlich mein Handy los.

Ich stürzte zum Schreibtisch, griff danach und hob ab.

„Was ist los?", fragte ich ängstlich.

„Ich wollte dir nur Bescheid sagen", fing mein Dad an. „Deine Mum liegt jetzt auf der psychiatrischen Station. Sie werden sie wegen des Zusammenbruchs eine Weile hier behalten. Ich werde ... ich werde noch hier bleiben. Es muss noch einiges geregelt werden und ich will sie ungern alleine lassen. Aber heute Abend komme ich nach Hause. Hast du nachgesehen, ob ich was vergessen habe?", fragte mein Vater mit resignierter Stimme.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Gewissen hob tadelnd den Finger und zeigte anklagend auf mich. Mein Vater hatte mich um nur eine einzige Kleinigkeit gebeten und ich hatte sie einfach vergessen.

„Nein Dad. Das hab ich vergessen. Tut mir Leid", gab ich kleinlaut zu.

„Schon in Ordnung. Ich werde es dann merken. Ich hab dich lieb", sagte er milde.

„Ich dich auch", erwiderte ich.

Dad legte auf. Ich hielt mir das tutende Handy noch eine Weile ans Ohr und starrte auf meinen Kleiderschrank. Meine Mum auf der Psychiatrischen? Auf einmal wurde mir das Handy aus der Hand genommen. Kyle legte es auf den Schreibtisch und sah mich fragend an.

„Ich muss ins Krankenhaus", sagte ich nur.

„Zieh dir was Anderes an. Ich warte draußen", meinte Kyle und verschwand in den Flur.

Keine Fragen. Keine Ausflüchte, um zu verschwinden. Nur Verständnis. Ich sah ihm kurz nach und genoss die Wärme, die mein Herz umfing. Während ich mir ein weißes Top und eine  Jeans anzog, kam mir ein beruhigender Gedanke in den Kopf:

Ich war nicht alleine.

The New MeWhere stories live. Discover now