58. Kapitel

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58. Kapitel - Julia

Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes auf der Welt.

- Ralph Waldo Emerson

Alexanders Daumen fuhr sanft über die dünne Haut an meinem Handgelenk. Unwillkürlich beschleunigte sich mein Puls. Über meinen ganzen Körper breitete sich ein Prickeln aus. Ich hielt die Luft an und fühlte, wie mein Herz wild in meiner Brust klopfte.

„Lilly", sagte Alex leise und drehte mich zu sich um.

Die Luft zwischen uns schien zu knistern. Wie konnte das sein? Ich hatte gerade meinen Bruder beerdigt und trotzdem fühlte ich die körperliche Anziehungskraft, die zwischen uns herrschte, mehr als deutlich. Vielleicht war das wie diese Sache mit den Nahtoderfahrungen. Angeblich sollte man danach auch den Drang nach körperlicher Nähe verspüren.

Wir standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als er seinen Zeigefinger auf meine Lippen legte und flüsterte:

„Du vergisst schon wieder das Atmen."

Sein Zeigefinger glitt von meinem Mund, als ich tief einatmete. Aber er nahm seine Hand nicht einfach hinunter. Langsam ließ er sie an meinem Hals hinab zu meinem Arm gleiten.

„Lilly, ich muss dir etwas sagen", sagte Alex ernst.

Interessiert, aber auch ängstlich, sah ich ihn an. Wollte er mich nicht mehr sehen? War er immer noch wütend? Verdammt, warum konnte es nicht so einfach sein wie damals, als wir uns kennen gelernt hatten?

„Ich verlasse das Militär."

„Was?", flüsterte ich überrascht.

„Warum?", fragte ich dann mit fester Stimme und trat einen Schritt zurück, um ihn besser ansehen und klarer denken zu können.

Auf die Dauer war es ziemlich anstrengend immer zu ihm hinauf sehen zu müssen. Alex griff nach meinen Händen und hielt sie sanft fest.

„Deinetwegen. Wegen deiner Familie. Ich will nicht irgendwann einer der Soldaten sein, die vermisst und nie gefunden werden. Ich will einfach nicht, ...", setzte Alex zu seiner Erklärung an, als plötzlich ein lauter Schrei durch das ganze Haus gellte.

Erschrocken fuhr ich herum. Alex legte beschützend seinen Arm um mich. Etwas, das er sich im Laufe der Zeit angewöhnt hatte. Egal, ob wir feiern waren oder draußen im Park. Wenn eine Situation potenziell bedrohlich wirkte, legte er seinen Arm um meine Hüfte und zog mich zu sich heran. Aber was war es, vor dem er mich jetzt gerade beschützte? Was war passiert? Woher kam das?

Plötzlich wurde die Klinke meiner Tür heruntergedrückt. Dann hämmerte jemand mit der flachen Hand dagegen. Alex schob sich vor mich.

„Lilly? Lilly, bist du da drin?", hörte ich meine Mutter aufgelöst rufen.

Ein weiterer Schrei ging durchs Haus. Erleichtert, dass es nur meine Mutter war, schob ich mich an Alex vorbei und wollte die Tür öffnen.

„Ach!", stieß ich verärgert hervor, als mir einfiel, dass ich abgeschlossen hatte.

Schnell schloss ich auf und öffnete ruckartig die Tür.

„Mum? Was ist passiert?", fragte ich besorgt.

„Es ist Julia. Ich fürchte, sie hat Wehen", antwortete sie und deutete den Flur entlang.

„Was? Nein. Es ist doch noch viel zu früh!", stellte ich bestürzt fest.

„Ich weiß. Wir brauchen dich. Jetzt!", sagte meine Mutter und packte meine Hand.

„Alex", rief ich.

The New MeWhere stories live. Discover now