9. Kapitel

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9. Kapitel - Nur ein Spiel

Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.

- Johann Wolfgang von Goethe

Nachdem Kyle verschwunden war, ging ich ins Bett. Obwohl ich müde war, konnte ich stundenlang nicht einschlafen. Immer wieder dachte ich an Kyle. Wie konnte es nur sein, dass er sich mit mir traf? Vielleicht machte er sich ja nur über mich lustig. War ich vielleicht Teil einer Wette? Bei dem Gedanken zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, besonders als ich erwog, dass Isabelle etwas damit zu tun haben könnte. Irgendwie war der Gedanke ja gar nicht so abwegig. Warum sonst sollte er sich für mich interessieren? Selbstzweifel stiegen in mir auf. Doch ehe sie die Oberhand gewinnen konnten, verwarf ich sie wieder. Selbst wenn! Ich würde einfach das Beste daraus machen. Mein neues Ich würde das wegstecken. Zumindest redete ich mir das verzweifelt ein.

Gegen drei Uhr morgens schlief ich dann endlich ein. Leider kam mein Vater um sechs Uhr in mein Zimmer, um mich für den Morgenlauf zu wecken. Murrend drehte ich mich von ihm weg. Ich war viel zu müde, um mich körperlich oder mental zu betätigen. Doch mein Dad war gnadenlos. Er zog mir die Decke weg, zog die Rollläden hoch und scheuchte mich ins Badezimmer. Eine halbe Stunde später liefen wir im Gleichschritt durch die Straßen von L.A.. Einige Anwohner schliefen noch. Zu gerne hätte ich mich zu ihnen gezählt. Doch das war ein Luxus, der mir nicht gegönnt war. Unbarmherzig spornte mein Dad mich immer weiter an. Als wir fünf Meilen weiter an einer Häuserkette vorbeiliefen, die noch recht neu war, entdeckte ich Kyle. Er saß in einer Hollywoodschaukel auf der Veranda und las. Während mein Dad weiterlief, blieb ich erstaunt stehen. Als er das merkte, gab ich ihm ein Zeichen, dass ich nachkommen würde. Misstrauisch sah er mich an, lief dann aber doch alleine weiter. Natürlich wollte er, dass ich trainierte, aber er konnte es nicht leiden, in seiner Routine unterbrochen zu werden, weshalb es mich auch keine größeren Überredungskünste kostete, ihn loszuwerden.

Ein paar Minuten lang beobachtete ich, wie Kyle las und mit einem Bein leicht die Schaukel vor und zurück bewegte. Das Ganze hatte was von einem kitschigen Liebesroman, nur, dass mir die Rollen vertauscht vorkamen. Irgendwann beschloss ich, zu ihm zu gehen. Ich stieg über das niedrige Gartentor, da mir der Aufwand es zu öffnen, größer erschien und lief zur Veranda.

„Hey", sagte ich leise zur Begrüßung.

Etwas Kreativeres fiel mir irgendwie nicht ein. Erschrocken sah Kyle auf. Als er mich erkannte, breitete sich ein leicht nervöses Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er legte sein Buch beiseite und begrüßte mich ebenfalls. Dreist, wie ich gerade war, setzte ich mich neben ihn auf die Schaukel. Sie war aus Holz und definitiv handgearbeitet. Bewundernd fuhr ich über die Lehne.

„Die ist wirklich schön."

„Danke. Die hab ich zusammen mit meinem Dad gebaut", erklärte Kyle.

Überrascht sah ich ihn an. Kyle wirkte nicht wie der Typ für so etwas. Andererseits, was wusste ich denn schon über ihn? Ein Gedanke, der mir irgendwie recht beunruhigend erschien.

„Wirklich?"

Kyle nickte. Interessiert musterte er mich. Verdammt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich total verschwitzt war und vermutlich ziemlich erledigt aussah. Egal. Einfach nicht darüber nachdenken.

„Läufst du jeden Tag um sechs Uhr in der Frühe?", fragte Kyle, der das wohl lustig fand.

„Liest du jeden Tag um sechs Uhr ein Buch?", gab ich zurück.

Er zuckte mit den Schultern und wartete darauf, dass ich ihm antwortete.

„Ja. Mein Dad besteht darauf. Er will, dass ich vor Typen wie dir weglaufen kann", antwortete ich kess.

Schmunzelnd sah Kyle mich sehr direkt an. Unwillkürlich kam mir der vergangene Abend in den Sinn. Als er dicht hinter mir gestanden hatte, war mir ganz anders geworden. Aber es war ein angenehmes Gefühl gewesen, obwohl ich dachte, ich könnte nie wieder atmen. Eine Tatsache, die sich nicht mit dem Wunsch vereinen ließe, noch ein langes Leben zu haben. Kyle schien denselben Gedanken zu haben. Seine rechte Hand griff nach meinen Händen, welche ich im Schoß verschränkt hatte. Zögernd faltete ich sie auseinander und ließ ihn meine rechte Hand halten. Sanft zeichnete er mit dem Daumen kleine Kreise auf meinen Handrücken.

„Was soll das Ganze?", fragte ich leise.

Wenn er falsch spielte, wollte ich das wenigstens wissen. Und zwar bevor ich mein Herz an ihn verlor.

„Was meinst du?", fragte Kyle und sah mir dabei in die Augen.

„Ist das für dich ein Spiel? Bin ich Teil einer Wette? Wenn ja, wüsste ich das gerne im Voraus. Damit ich mich darauf einstellen kann."

Kyle legte den Kopf leicht nach links und sah mich kopfschüttelnd an.

„So etwas würde ich nie tun."

„Du würdest dasselbe sagen, wenn es so wäre", stellte ich kühl fest und entzog ihm meine Hand.

Es war mir plötzlich unangenehm, dass er mich berührte und ich fühlte mich schmutzig. Als hätte er mir etwas genommen, dass ich nicht zurückbekommen konnte oder sich benennen ließ.

„Ich sollte besser gehen", sagte ich leise und wandte mich zum Gehen.

Doch Kyle griff nach meiner Hand, stand ebenfalls auf und sah zu mir hinunter, da er einen ganzen Kopf größer war als ich. Wir standen so dicht beieinander, dass ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht fühlen konnte. Er hob seine Hand an meine Wange.

„Ich würde dich nie betrügen", sagte er mit kehliger Stimme.

Ich wollte meinen Kopf von ihm abwenden, doch er umfasste mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Widerwillig sah ich in seine eisblauen Augen. Er beugte sich zu mir vor und küsste mich auf die Stirn. Das war komisch. Sonst machte das nur mein Bruder. Trotzdem fühlte es ich gut an. Ohne ein weiteres Wort ließ ich ihn auf der Veranda zurück. Als ich über das Gartentor stieg, rief Kyle mir hinterher:

„Wenn du dir sicher bist, dass ich nicht mit dir spiele, schmeiß mir einen Zettel in den Briefkasten, dann komme ich zu dir."

Ohne darauf zu reagieren, begann ich zu laufen. Mein Herz pochte wild und zwei Meilen weiter merkte ich, dass es bereits zu spät war: Ich hatte mein Herz schon an ihn verloren. Von mir selbst enttäuscht, beschleunigte ich meine Schritte und rannte den Weg nach Hause in Rekordzeit. Ich verschwand direkt in mein Bad, um zu duschen. Unter dem heißen Wasser beruhigte ich mich wieder. Wieso regte ich mich eigentlich so auf? Es konnte doch sein, dass Kyle mich mochte. Trotzdem ärgerte ich mich. Ich kannte ihn erst seit wenigen Tagen und schon hatte ich mich in ihn verliebt. So etwas war mir doch früher nicht passiert. Als ich dann mit meinen Eltern beim Frühstück saß und ihnen zuhörte, wie sie vom gestrigen Abend erzählten, beschloss ich, Kyle einfach eine Chance zu geben. Mehr als mir das Herz zu brechen, konnte er nicht tun.

Beim Abräumen erzählte ich meinen Eltern, was Leo gesagt hatte, als ich mit ihm gechattet hatte. Besorgt sah meine Mum zu Dad.

„Es wird ihm schon nichts passieren. Er ist ein guter Soldat."

„Ich fand von Anfang an, dass es falsch ist, dass er zum Militär geht. Aber du musstest ja unbedingt deinen Willen durchsetzen", fuhr meine Mutter ihn an.

Ich wusste, dass sie sich große Sorgen um Leo machte und Dad deshalb so anging. Er wusste das auch, weshalb er sie in den Arm nahm und ganz fest hielt. Ich ging zu ihnen und umarmte meine Mum ebenfalls. Wir würden das schon irgendwie schaffen. Das hatten wir bis jetzt noch immer getan. Mehr oder weniger.


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