65. Kapitel

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65. Kapitel - Das Herz und die Zeit

Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist.
- Albert Einstein

Alex und ich lagen auf dem Rücken in seinem Bett und starrten an die Decke. Wir waren beide verschwitzt, aber keiner konnte sich dazu aufraffen duschen zu gehen. Dafür waren wir viel zu erschöpft. Also blieben wir, wo wir waren. Alex hatte den Arm um mich gelegt und fuhr mit den Fingern meinen Oberarm entlang. Es kribbelte unter meiner Haut und ich schloss für einen Moment die Augen. Es war so ein schönes Gefühl Alex endlich wieder nah zu sein. Ihn zu spüren, ihn zu berühren. Ich hatte den Sex vermisst. Ich hatte ihn vermisst.

Allerdings konnte ich mir das nicht eingestehen. Ich wollte es auch gar nicht. Für mich stand noch immer mein Bruder an erster Stelle. Unwillkürlich fuhr ich mir mit den Fingern über die Lippen, als am Rande meines Gedächtnisses eine Erinnerung auftauchte. Schnell senkte ich meine Hand wieder und legte sie über der Decke auf meinen Bauch.

„Wie kommt es, dass du eine Ausbildung zur Navigatorin machen willst?", fragte Alex plötzlich in die Stille hinein.

„Ich mache keine Ausbildung. Nicht wirklich", sagte ich bloß matt.

Ich war so unendlich müde, aber ich wusste, dass Alex mich nicht schlafen lassen würde. Er wollte das klären. Und ich wollte es auch.

„Wie das?", hakte er nach.

„Sie haben mal meinen IQ getestet. Ich kann mir schnell und leicht einen Überblick verschaffen und entsprechend handeln. Als ich jünger war, habe ich oft aus Spaß Simulationen durchgespielt, wenn ich auf dem Stützpunkt war. Der General war beeindruckt von meinen Ergebnissen. Er wollte mich schon vor einigen Jahren rekrutieren, aber ich habe abgelehnt. Heute ... heute ist alles anders. Ich habe ihn gefragt und er hat zugestimmt", erklärte ich.

Plötzlich stoppten Alexanders Finger in ihrer Bewegung. Ich drehte mich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. Fragend sah ich ihn an. Irgendetwas beschäftigte ihn. Das konnte ich sehen und sogar spüren. Nachdenklich sah er mir in die Augen. Seine Hand, die noch auf meinem Arm ruhte, verstärkte sanft den Druck.

„Ich habe einfach Angst", meinte er unvermittelt.

„Ich weiß", murmelte ich.

„Nein. Weißt du nicht", sagte er verärgert.

Alex schlug die Decke zurück und stand auf. Er schnappte sich seine Boxershorts und zog sie an. Dann stellte er sich mit verschränkten Armen ans Fenster. Noch immer im Bett liegend, das auf einmal schrecklich kalt war ohne ihn, erwiderte ich:

„Ich weiß, dass du Angst hast, weil du nicht irgendwo da draußen als vermisst gelten willst. Aber Alex ... ich verlange doch gar nicht, dass du beim Militär bleibst. Ich will nur nicht, dass du wegen mir, beziehungsweise wegen meiner Familie, aus dem Militärdienst austrittst."

„Das ist es nicht", meinte er nur kalt.

Verzweifelt setzte ich mich auf, hielt aber die Decke vor mich. Wie ein Schutzschild, das mich vor seiner plötzlich zurückgekehrten Kälte schützen sollte.

„Was ist es dann?", fragte ich ihn.

Alex drehte sich um, kam zu mir und kniete sich vors Bett. Er griff nach meiner Hand und sah mich niedergeschlagen an. Wie von selbst, hob ich eine Hand und legte sie an seine Wange. Was war denn nur los?

„Ich habe Angst, dass dir etwas passiert. Ich weiß, wie sehr du deinen Bruder finden willst. Und gerade weil ich das weiß und weil du Recht hast, wenn du sagst, dass ich dasselbe für Jonny tun würde, weiß ich auch, wie weit du dafür gehen würdest. Aber Lilly, dein Bruder ist tot. Und ich glaube nicht, dass er wollen würde, dass du dein Leben in Gefahr bringst, um seine sterblichen Überreste zu finden", versuchte er mir zu erklären.

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