47. Kapitel

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47. Kapitel – Ein ungewöhnlicher Wunsch

Nichts ist leichter zu zerstören als das Glück eines Menschen. Es ist das Ergebnis einer unendlichen Reihe von Ursachen und schwer zu fassenden und doch sehr tief reichenden Bedingungen.

-Sully Prudhomme

Die nächsten zwei Wochen besuchte ich Lilly jeden Tag für mehrere Stunden im Krankenhaus. Ich schaffte es, dass sie aß, ihre Hautfarbe besser wurde, sie duschen ging und aufhörte, an ihren Nägeln und Lippen zu kauen. Nur sprechen wollte sie nicht. Während ich sie zum Essen genötigt hatte, versuchte ich beim Sprechen geduldig zu sein. Ich erzählte ihr hin und wieder etwas von Hanna, die es nicht übers Herz brachte, zu ihrer Freundin zu gehen, was ich jedoch nur zu gut verstand, von ihren Eltern, die ich meist nach Hause schickte, wenn ich da war, selbst von mir, aber sie erwiderte nie etwas. Die unendliche Stille, die sich über Lilly gelegt hatte, machte mich ganz krank. Es war erdrückend und schmerzhaft, sie so zu sehen, dass ich manchmal kurz davor war, zu gehen. Aber Lilly schien einen sechsten Sinn zu haben, was das anging. Sie schaffte es immer, mich dazubehalten, so wie heute auch.

Wir lagen in ihrem Krankenbett. Lilly spielte abwesend mit unseren in einander verschlungenen Händen, während sie an die Decke starrte. Den Verband war sie mittlerweile los, doch die Nähte waren noch drinnen. Es war ein unschöner Anblick. Ihre Hand war beinah vollständig genäht worden, so sehr hatte sie sich verletzt. Aber sie kümmerte das nicht. So wie sonst auch nichts.

Ich lag neben ihr, sah verzweifelt in ihr ausdrucksloses Gesicht und wünschte mir, ihre Stimme zu hören. Ich war schon so weit, dass ich sie verärgerte. Vielleicht würde sie mich dann wenigstens anschreien. Es war mir egal, Hauptsache sie schwieg nicht mehr.

„Was glaubst du, wie Leo es finden würde, wenn er wüsste, dass du hier liegst?", begann ich, anfangs noch unsicher und ruhig.

„Er hat dir damals geholfen, als das mit Anna passiert ist. Aber dieses Mal bist du älter. Stärker. Du brauchst ihn nicht. Seit drei Wochen liegst du hier herum und starrst vor dich hin. Das kann so nicht weitergehen", fuhr ich fort und geriet dabei immer mehr in Rage.

Lilly lag bloß da und betrachtete weiter die Decke. Es schien, als würde sie mir gar nicht zuhören. Wütend richtete ich mich auf und beugte mich über sie. Ihre grünen Augen, welche langsam immer trüber wurden, sahen weiter durch mich hindurch.

„Lilly! Hörst du mir überhaupt zu? Komm schon, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne! Du kannst doch jetzt nicht einfach aufgeben!"

Lillys Blick klärte sich und sie schaute mir in die Augen. Ich löste unsere Hände von einander, stützte beide Hände neben ihrem Kopf ab und sah sie eindringlich an.

„Was brauchst du? Was ist nötig, damit es dir besser geht?"

Lilly

Alex sah mich wütend, aber auch verzweifelt an. Ich war schon seit Tagen wieder klar im Kopf, aber ich wollte es nicht sein. Ich wollte fliehen. Wollte alles hinter mir lassen. Alex, Hanna, Anna, Leo, meine Eltern, Kyle. Aber als Alex mich fragte, was ich brauchte, wurde mir klar, dass ich mich selbst belog. Ich wollte nicht alles hinter mir lassen. Es gab etwas, jemanden, den ich brauchte, wie die Luft zum atmen. Jemanden, der an mein Herz gebunden war, auf eine Art, die nicht in Worte zu fassen war, weil es nicht so simpel war. Es war kompliziert, wie so vieles im Leben. Es war keine Freundschaft, dafür war es zu viel. Es war keine Liebe, auch dafür war es zu viel. Es war mehr als beides. Es war eine Art Abhängigkeit. Etwas, das ich nie gewollt hatte. Jemand, den ich nie gewollt hatte.

Alex

Lilly schien über meine Frage nachzudenken. Aber sie sagte noch immer nichts. Das war's. Ich gab auf. Ich hatte nicht mehr die Kraft, um für sie da zu sein und nichts außer leere Blicke dafür zu bekommen. Ich ließ den Kopf hängen, küsste sie auf die Stirn und wollte gehen, denn ich konnte mir das keine Sekunde länger antun. Ich wollte nicht.

Doch Lilly gab mir eine Antwort auf meine Frage. Eine, die ich niemals erwartet hätte und eine, die alles ändern sollte. Es war ein Wort. Ein Wort, das alles zunichte machte. Ein Wort, das hoffen ließ. Ein Wort, das alles bedeutete. Ein Wort. Ein Name. Eine Person.

„Kyle."

Mein Herz hörte auf zu schlagen. Mein Atem stockte. Die Zeit blieb stehen. Die Welt hörte auf, sich zu drehen.

„Kyle?", fragte ich, unsicher ob ich womöglich halluzinierte.

„Kyle", bestätigte Lilly.

„Kyle", wiederholte ich tonlos.

Lilly

Alex sah mich an, aber es war offensichtlich, dass seine Gedanken ihn gefangen nahmen. Plötzlich richtete er sich auf, rutschte von meinem Bett und lief zur Tür.

„Du willst Kyle? Schön! Du bekommst ihn!", brüllte er mich an.

Dann fiel hinter ihm laut die Tür ins Schloss. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.

Alex

Zähneknirschend stand ich vor Kyles Haus und klingelte Sturm.

„Klebt Ihr Finger auf der Klingel, oder was?", maulte Kyle, als er die Tür öffnete.

„Alex", stellte er überrascht fest.

„Kyle", erwiderte ich und beherrschte mich, ihm keine aufs Maul zu hauen.

Ehe meine Faust sich selbstständig machen konnte, war meine Zunge schneller:

„Lilly ist im Krankenhaus. Sie will, dass du sie besuchst. Jetzt."

Kyles Gesicht wurde aschfahl. Er sah bestürzt aus, sogar besorgt, und ich hätte ihm am liebsten gleich zwei Schläge verpasst. Warum zur Hölle, konnte er nicht einfach die Tür zu schlagen? Warum konnte er nicht einfach sagen, dass es ihm egal war? Er hatte Lilly schlecht behandelt und trotzdem wollte sie ihn sehen. Trotzdem schien sie ihn noch zu lieben. Und das war auch der Grund, warum ich so wütend war. Sie liebte ihn, obwohl er sie für seine Zwecke missbraucht hatte. Sie verdiente jemand besseren. Jemanden, der in naher Zukunft hoffentlich in ihrem Leben auftauchen und Kyle vertreiben würde.

„Ich hole meine Sachen", murmelte Kyle tonlos und verschwand die Treppe hinauf.

Ungeduldig stand ich in der Tür und wartete. Keine zwei Minuten später kam er wieder, in einer Hand hielt er eine Leinwand. Darauf war Lilly zu sehen. Sie saß in einem Pavillon, ihr Gesicht war halb im Dunkeln, halb im Licht. Es schmeckte mir ganz und gar nicht, das zugeben zu müssen, aber das Bild war wunderschön. Aber warum zum Teufel, musste er das mitschleppen?

„Muss das sein?", fragte ich genervt, als wir zu meinem Wagen gingen.

„Bei ihrem letzten Besuch, hat sie es sehr lange betrachtet. Ich glaube, dass es ihr gefällt", erklärte Kyle.

‚Natürlich gefällt es ihr. Es kommt schließlich von dir, du Idiot', dachte ich.

Eine viertel Stunde später, standen wir vor Lillys Zimmer. Kyle zögerte, so wie ich damals gezögert hatte, als ich zum ersten Mal da gewesen war. Ich nahm es ihm ab und öffnete die Tür. Kyle trat ein, ich folgte ihm. Lilly saß im Bett und sah uns an. Als sie Kyle anschaute, hellte sich ihre Miene kaum merklich auf. Ich bemerkte es trotzdem. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als Kyle das Bild an die Wand lehnte und Lilly es mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete. Kyle ging zu ihr und setzte sich auf die Bettkante.

„Wie geht es dir?", fragte Kyle besorgt.

Lilly sah ihn an und sagte:

„Besser."

Ich legte den Kopf in den Nacken und fluchte innerlich. Besser? Besser?!

„Was ist passiert?", fragte Kyle und nahm ihre Hand.

Lilly ließ es geschehen, betrachtete einen Augenblick lang ihre ineinander verschlungenen Finger.

„Ich hatte ...", fing sie an mit rauer Stimme zu erzählen.

Ich konnte das nicht. Ich konnte nicht da stehen und hören, wie sie zum ersten Mal seit Wochen sprach und das nicht mit ihren Eltern oder mir, sondern mit dem, der sie mit an den Abgrund getrieben hatte. Ich wandte mich von den beiden ab und verließ das Zimmer. Verließ das Krankenhaus. Verließ die Stadt. Wenn Lilly sich weiter zerstören wollte, sollte sie das tun, aber ich würde nicht daneben stehen und zusehen.

The New MeWhere stories live. Discover now