Attraction

By bookdream16

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Stell dir vor, dein One-Night-Stand ist plötzlich dein Zimmernachbar im Studentenwohnheim. Schöne Scheiße? J... More

Vorwort
*Aesthetics*
Playlist
1. „Let's Start the Party"
2. Kriminelle Partybekanntschaft
3. Wenn ich du wäre...
4. „Glowing in the Dark"
5. One-Night-Stand
6. Der Tag danach
7. Umzug
8. Bekannte Unbekannte
9. x-beliebiger Sex mit x-beliebigen Mädchen
10. Attraktive Mitfahrgelegenheit
11. Willkommen Chiara
12. Semesteropening-Party
13. Absturz
14. Alte Lieben
15. Flashback
16. Makelloser Lebenslauf
17. Bewerbungsgespräch und Wutausbruch
18. Nates Last
19. „Ich bin froh, dass du hier bist"
20. Dornröschen und der Prinz ohne Krone
21. Netflix and Chill
22. ‚Date' mit Josh vs. Körperkontakt
23. Herzensbrecherin
24. Nächtliche Entführung
25. Brennendes Kribbeln
26. Bildungslücken
27. Mutterinstinkte und Vergangenes
29. „Mädchen, an deiner Stelle würde ich rennen."
30. Theo Clark
31. Breaking Free
32. Nächtliche Schmetterlinge
33. Undercover Plan
34. Gespräche über Gefühle
35. „Du bist definitiv alles andere als ein x-beliebiges Mädchen."
36. Mister Brown
37. Unterschwellige Machtdemonstration
38. Der Brief
39. Eine schlüpfrige Entdeckung
40. Fallen lassen
41. Die ganze Wahrheit
42. „Wir sind doch eine Familie, da vertraut man sich."
43. Zerschmettertes Herz
44. Alles vorbei?
45. Die letzten zwei Minuten
Epilog
Informationen + Abstimmung
WICHTIGES UPDATE! Neue Story

28. Nate aka das Vorbild

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By bookdream16

„Du hast was?", halb entrüstet, halb euphorisch hustete Chiara und versuchte nicht an dem verschluckten Kaffee zu ersticken.

Chiara war zufälligerweise zur selben Zeit für zwei Tage bei ihrer Mutter in unseren kleinen Heimatstadt zu Besuch, um einige Sachen abzuholen. Wie sie mir zumindest zu versichern versuchte.
Doch spätestens als sie mich gestern gefragt hatte, ob Wesley, sie und ich uns in unserem Lieblingskaffee treffen wollen, wusste ich, dass das Abholen ihrer Sachen mit Sicherheit nicht der einzige Grund für sie gewesen war, nach Glennwood zu kommen.

Sie hatte Wesley wohl doch etwas vermisst. Oder zumindest den Sex mit ihm. Mal davon abgesehen, dass wir nebenbei recht gut mit ihm befreundet waren.
Natürlich hatte sie nichts dergleichen zugegeben oder angedeutet. Chiara war durch die Scheidung ihrer Eltern, der mit einem ewig langen Streit einherging, bei dem sie mehrere Jahre zwischen den Fronten stand, vermutlich traumatisiert. So sehr, dass sie Bindungen emotionaler Art höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile meiden würde. Ihre Eltern waren rücksichtslos gegenüber ihr gewesen.

Ich meine, sie war nicht unglücklich in ihrer Position und genoss die lockeren Dinge. Doch ich glaubte irgendwo in mir, dass die Einstellung ihrerseits gegenüber Gefühlen oft ein Schrei nach Hilfe war. Sie hatte irgendwann angefangen die fehlende liebende Aufmerksamkeit ihrer Eltern durch Bewunderung wildfremder Jungs zu ersetzten. Dabei war sie stets die abgeklärte und unabhängige Chiara.

Doch mir tat es unfassbar weh zu sehen, wie sie sich selbst im Weg stand, wenn sie begann mehr für einen Menschen zu empfinden. Und ich sah ihr genauestens an, wenn sie versuchte das Entwickeln für Gefühle zu unterdrücken. Das verliebte Funkeln aus ihren Augen zu streichen. Dabei hätte sie es mehr als verdient jemanden an ihrer Seite zu haben, der ihr Liebe entgegenbrachte, sie unterstützte und ihr zeigte wie wundervoll es sein konnte in einer Beziehung zu sein. Ob Wesley derjenige war, sei mal dahingestellt.

Gerade saßen wir in unserem kleinen Stammkaffee und quatschen über die vergangenen Wochen. Chiara, Wesley und ich. Dabei hatten wir uns einiges zu erzählen. Immerhin hatten wir alle einen neuen Lebensabschnitt begonnen. Chiara und ich in Bakersfield und Wesley hatte ein Fernstudium in Glennwood begonnen, so konnte er nebenbei in die Firma seiner Familie eingeführt werden. Wesley und ich verstanden uns seit dem letzten Schuljahr tatsächlich ganz gut, da wir durch die Turtelei mit Chiara oft Zeit zu miteinander verbracht hatten. So war es einfach passiert, dass wir irgendwie Freunde geworden sind.

Gerade hatte ich meiner besten Freundin eröffnet, dass Nate die Ferien bei mir und meinen Eltern verbrachte. Davor hatte ich mich die gesamte Zeit versucht zu drücken. Da er später allerdings noch vorbeikommen würde, um mit mir meinen kleinen Bruder vom Fußball abzuholen, musste ich Chiara wohl oder übel reinen Wein einschenken.

„Bitte frag einfach nicht.", versuchte ich Chiara irgendwie abzuwürgen, bevor sie sich da reinsteigern und dem Ganzen mehr beimessen konnte, als es letztendlich war.

„Nate?", schaltete sich Wesley fragend ein, während er den Arm um Chiaras Rücken gelegt hatte. Seine Augenbraue zog sich unwissend nach oben.

„Ja, eh ein Freund von mir aus der Uni. Er wohnt gegenüber von meinem Zimmer.", erklärte ich so harmlos wie möglich, während ich mit den Schultern zuckte, bemüht um Leichtigkeit.

Natürlich konnte Chiara das nicht so stehen lassen: „Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts.", sie wandte sich an den breiten, großen Blondschopf neben sich: „Kannst du dich noch an die Abschlussparty erinnern, als unsere liebste Lou mit jemandem mitgegangen ist?"

Peinlich berührt versuchte ich die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben, die sich bei Chiaras Worten nach oben schlängeln wollten, bevor sie mich aus dem Konzept bringen konnten. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander, versuchte wegzuhören und strich mir peinlich berührt über die Stirn.

„Ja?", verwirrt sah Wesley zwischen Chiara und meinem gequälten Gesichtsausdruck hin und her.

„Tja, Nate ist der Unbekannte mit dem unsere Lou die ganze Nacht verschwunden war."

Nun sah Wesley schon wesentlich interessierter aus: „Ernsthaft?"

„Ernsthaft.", murrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Im Anschluss trank ich einen Schluck meines Milchkaffes.

„Ich verstehe aber nicht ganz, wieso du ihn mit zu deinen Eltern nimmst. Und dann auch noch über die Ferien. Du mochtest ihn doch nichtmal wirklich und ich dachte du wolltest ihm aus dem Weg gehen?", hinterfragte Chiara skeptisch und wandte sich wieder an mich. „Das ist definitiv das Gegenteil von: ‚Aus dem Weg gehen'."

Angestrengt pustete ich die Luft aus. Ich wusste selbst wie unfassbar dumm sich das anhörte. Von den merkwürdig ambivalenten Gefühlen zu Nate wollte ich ihr aber noch nicht erzählen, da ich selbst komplett verwirrt war.
Zudem müsste ich ihr unweigerlich von dem Familiendrama erzählen, was Nate mir anvertraut hatte, da sich dadurch unheimlich viel zwischen uns geändert hatte. Meine komplette Sichtweise auf Nates Person hatte sich umgestülpt. Ich hatte ihn das erste Mal verstanden. Es war das erste Mal, dass ich ihn nachvollziehen konnte. Dass ich ihn für keinen arroganten Arsch gehalten habe, sondern für ein kleinen Jungen, der das Machtwerkzeug seines Vaters in einem kranken, manipulativen Spiel war und der seine Mutter unglaublich vermisste. Der alles für die Menschen tat, die er in sein Leben ließ. Der versuchte stark zu sein, seine Überforderung unter Selbstbewusstsein zu verstecken.

Eigentlich waren wir dahingehend gar nicht so unterschiedlich. Ich hatte mir immerhin auch diese Selbstsicherheit antrainiert, um Menschen von mir zu stoßen, die mir emotional zu nahe kamen. Selbstschutz, um mich vor diesen Schmerzen zu schützen, die Menschen anrichten konnten, wenn man sie zu nahe an sich heran lassen würde. Vielleicht hatte ich ihn mir aus diesem Grund immer wieder versucht selbst auszureden. Weil ich genau wusste, dass Nate einer dieser Menschen werden könnte. Weil ich wusste, dass er mich dann verletzten würde.

Also suchte ich eine harmlose Erklärung, die ich Chiara glaubhaft andrehen konnte: „Er hatte etwas Stress mit seinen Eltern. Ich war so nett ihn einzuladen, weil er sonst in der Uni hätte bleiben müssen. Außerdem verstehen wir uns mittlerweile ganz gut."

Chiara beobachtete mich mit ihrem durchdringenden Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie wusste, dass ich mehr dachte als ich sagte: „Und es hat zufällig rein gar nichts damit zu tun, dass du eventuell Gefühle für Nate entwickelt hast?", zog die Blondine ihre Augenbrauen argwöhnisch nach oben.

„Nein.", entfuhr es mir entsetzt: „Um Gottes Willen, nein. Wir sind nur Freunde, wenn überhaupt."

Freunde, die zwei Mal miteinander geschlafen hatten. Völlig normale Freunde eben.

„Tja,...", räusperte sich Wesley nun. „...ich finde du solltest es auf dich zukommen lassen. Egal ob da etwas ist oder nicht. Irgendwie scheint dich das ja trotzdem glücklich zu machen und zu funktionieren.", er drückte meine Schulter bekräftigend: „Pass nur auf, dass er dich nicht verarscht und dir am Ende das Herz bricht.", seine Worte und ruhige Art zogen ein Lächeln auf meine Mundwinkel.

„Lou, ich kenne dich schon so lange. Ich sehe es in deinen Augen, wenn du dich verknallt hast.", versuchte mir meine beste Freundin weiterhin auf den Zahn zu fühlen. Noch war sie zumindest meine beste Freundin. Gerade hatte ich nämlich das starke Bedürfnis sie erdolchen zu wollen. Und zwar nicht, weil sie versuchte mir etwas einzureden, sondern weil ich befürchtete, dass sie mich besser kannte als ich mich selbst und sie womöglich recht haben könnte.

Quatsch! Nate war ein Freund. Mehr nicht. Nichtmal ein besonders guter.

„Ich finde ihn okay, das wars auch schon. Mehr ist da nicht.", stritt ich vehement ab. Vielleicht etwas zu vehement.

„Abgesehen von einer unsagbar kribbeligen Spannung.", ertönte es plötzlich direkt hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich über die Schulter, um direkt auf Nates grinsendes Gesicht zu stoßen.

Verdammt, er hatte mitgehört. Ich sollte ihm langsam ein Glöckchen umhängen, damit dieses Anschleichen ein Ende hatte. Sonst würde ich ihm aus Frustration irgendwann irgendetwas über den Kopf ziehen.

Hoffentlich bildete er sich jetzt nichts darauf ein, dass ich mit meinen Freunden über ihn gesprochen hatte. Das Gespräch sollte sowieso nur ein Informationsgespräch werden und nicht in diese Richtung verlaufen: „Belauschen ist unhöflich.", wies ich ihn fälschlich grinsend zurecht.

„Das war eher ein zufälliges Aufschnappen von Informationen.", konterte er.
Neben dem Tisch kam er, in seinen Jeans und dem schwarzen Hoodie, zum Stehen. Anschließend sah er zu Chiara und Wesley, die ihn beobachteten: „Ich bin Nate, aber ich glaube das wisst ihr schon von dem Sonnenschein?"

Chiara war die erste, die aufsprang und Nates entgegengestreckte Hand begrüßend ergriff: „Irgendwo schonmal gehört, ja. Ich bin Chiara, die beste Freundin von der Chaotin."

Als sie sich gesetzt hatte, schlug Wesley kurz bei Nate ein. „Freut mich dich kennenzulernen, Wesley."

„Setzte dich doch.", forderte Chiara Nate auf.

„Prinzipiell gern.", lächelte er ihr freundlich entgegen, bevor er sich an mich wandte: „Aber wir sollten deinen Bruder abholen. Sein Training ist gleich vorbei. Ich bin extra mit dem Auto gekommen."

Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass Nate recht hatte. Es war schon verdammt spät. Wir sollten dringend los, sonst wären wir unpünktlich. Das wäre sowohl blöd für meinen Bruder, als auch für meine neurotische Pünktlichkeitsstörung.

Ich schnappte mir meine Sachen, legte Chiara und Wesley das Geld für mein Getränk auf den Tisch und schulterte meine kleine Tasche: „Bezahlt ihr dann?"

„Klar, geh ruhig.", versicherte mir Chiara: „Lasst Henry bloß nicht warten.", lachte sie.

Ich wollte mich gerade mit Nate aus dem Staub machen, da rief mir Wesley noch hinterher: „Lou, denk dran, dass du gern zu der Party übermorgen bei dem verlassenen Anwesen kommen kannst.", erinnerte er mich an seine Einladung, worüber wir vor dem ganzen Nate Thema gesprochen hatten. Wesley hatte einen Kumpel, der am Wochenende eine Party in einem leerstehenden Haus am Stadtrand feiern würde, was zwar seinen Eltern gehörte, sie aber nie restauriert hatten. Wie es klang, würden dort auch ziemlich viele Leute aufkreuzen. Chiara konnte leider nicht, da sie zu dem Zeitpunkt schon wieder in Bakersfield sein würde.

„Ich denke drüber nach, Wes.", versicherte ich ihm.

„Achja und Nate?", nun wandte er sich an den Jungen neben mir, woraufhin Nate ihn fragend ansah. „Du kannst auch gern vorbeischauen. Lous Freunde sind auch meine Freunde."

„Danke, wir werden da sein.", sprach Nate für uns beide und setzte sein spitzbübisches Grinsen auf.

* * *

Wir hatten meinen Bruder beim Fußballtraining abgeholt, was Dank Nates Auto nur zehn Minuten gedauert hatte. Nun waren wir noch ins Kino gegangen. Meine Eltern hatten uns Geld mitgegeben, damit Henry und ich wenigstens etwas Zeit miteinander verbrachten. Momentan war er meist eher mit anderen Dingen beschäftigt.

Nate sollte uns begleiten. Das hatte meine Mom höchstpersönlich schelmisch grinsend angeführt, was mir wirklich Angst bereitete. Ich hatte die Befürchtung, dass sie den Gedanken von Nate als Schwiegersohn etwas zu gut fand. Mit Sicherheit wollte sie nun die Kupplerin spielen.

Prinzipiell hätte ich auch nichts dagegen, wäre es ein Junge den ich wirklich mögen würde. Doch Nate? Ich verstand wirklich nicht, wieso ihn meine Mutter —ach was redete ich da— wieso ihn meine ganze Familie so mochte. Klar, er benahm sich angemessen und zuvorkommend. Wer würde das bei der Einladung von fremden Menschen nicht tun? Meine Mom tat fast so, als wäre Nate der Hauptgewinn schlechthin.

Vielleicht manipulierte er die Menschen in seinem Umfeld mit seinen seltenen hellgrünen Augen, die einen fast verschlangen, wenn man eine Sekunde zu lang hinsah.

Selbst mein Bruder, der wirklich sehr wählerisch war, schien ihn bereits mehr zu lieben als mich. Spätestens nachdem sich beide bei der Filmauswahl im Kino gegen mich verschworen hatten, war ich mir sicher, dass mir Nate ohne mit der Wimper zu zucken den Platz als Schwester streitig machen könnte.

Jetzt war ich, dank den Idioten, dazu gezwungen einen dämlichen Actionfilm zu schauen, dessen Effekte vermutlich wieder Jenseits der Absurdität und Überdramatisierung waren. Ich hasste solche Filme. Meiner Meinung nach hatten die meisten Filme dieser Art wenig Inhalt und eine emphatische Bindung zu den Charakteren aufzubauen war nahezu unmöglich. Sie waren mit den lauten und zerstörerischen Effekten auf die Gehirne von Männern angelegt. Es war nicht so, dass ich Liebesfilme bevorzugte, doch ein dramatischer Film mit Witz, Liebe und echten Gefühlen war mir dann doch lieber.

Nachdem wir uns die Karten geholt hatten, diskutieren wir mittlerweile über die Snackauswahl.

Nate argumentierte vehement für Nachos, wohingegen ich auf mein süßes Popcorn bestand.

„Dann wenigstens salziges Popcorn.", versuchte Nate einen, nicht zu akzeptierenden, Kompromiss zu finden.

Angewidert zog ich eine Grimasse: „Salziges Popcorn ist wirklich eine Abart von Kinosnacks, da kannst du auch gleich Pizza Hawaii essen.", wenn es Menschen gab die ich verurteilte, waren das Menschen, die absichtlich salziges Popcorn kauften oder Pizza Hawaii als ernstzunehmende Pizzavariante bestellten.

„Süßes Popcorn ist ein langweiliger Snack.", protestierte Nate etwas genervt.

„Und salziges Popcorn ist ein ekelhafter Snack.", ich verschränkte die Arme abwehrend vor meiner Brust: „Ich kann nicht glauben, dass ich dich in mein Haus gelassen habe. Salziges Popcorn..."

Auffordernd stieß ich Henry an, der sich die gesamte Zeit aus der Diskussion rausgehalten hatte: „Henry, sag doch auch mal was dazu."

Ich wusste, dass mein Bruder süßes Popcorn genauso liebte wie ich. Das war eines der wenigen Dinge, bei denen wir uns einig waren.

„Hm?", hastig richtete er seinen Blick zu uns, als hätte er bis eben nichts von der Diskussion mitbekommen. Doch seine Aufmerksamkeit hielt nur wenige Augenblicke an, stattdessen wandte er seinen Blick abermals ab.

Neugierig folgte ich ihm. Zu einem blonden Mädchen, was sich unweit von uns mit einer Freundin vor den Toiletten unterhielt und ungefähr im selben Alter wie Henry sein musste.

Oh mein Gott. Perplex weiteten sich meine Augen und mein Mund klappte auf: „Du magst sie!", stellte ich etwas lauter fest als beabsichtigt.

Ruckartig drehte sich Henry zu mir und bedeutete mir zischend: „Noch lauter, wenn es geht. Das andere Ende des Kinosaals hat es noch nicht gehört!"

Verlegen kratzte sich Henry am Hinterkopf seiner lockigen Haare, während er abermals zu dem Mädchen hinüber sah.

„Sorry, Henry.", biss ich mir auf die Lippe. Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, an dem ich wohl die peinliche älter Schwester mimte. Und daran war ich auch noch selbst Schuld. Ich hätte meine Lautstärke in dem Moment echt mal ein bisschen zügeln sollen.

Henry reagierte nur mit einem abwegigen Augenverdrehen, eher er einen schüchternen Blick zu dem Mädchen warf. War mein Bruder etwa schüchtern? Sonst war er doch so unheimlich gut im Sprüche klopfen und strotze vor Selbstbewusstsein: „Das spielt sowieso keine Rolle. Jedes Mal, wenn ich sie sehe traue ich mich nicht sie anzusprechen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich ihr sagen sollte."

Ich fasste es nicht. Henry war das erste Mal verknallt. Merkwürdig zu wissen, dass kleine Geschwister die Protagonisten ihres eigenen Lebens, mit ihren eigenen Gefühlen, Schwierigkeiten und Erlebnissen sind.

Allerdings ging mir als große Schwester beinahe das Herz auf. Ich wollte ihm unbedingt helfen und irgendeinen nützlichen Ratschlag geben.

Gerade als ich nachdachte, kam mir Nate zuvor: „Pass auf.", er gesellte sich zu meinem Bruder und legte seinen Arm freundschaftlich um ihn: „Du gehst da jetzt rüber und wirst sie ansprechen. Am besten setzt du auf einem humorvollen Spruch, der auf ein Detail anspielt, was dir bei ihr aufgefallen ist und gefällt. Damit zeigst du ihr nicht nur Humor und Interesse, sondern auch, dass du aufmerksam bist und sie dir schon länger aufgefallen ist. So vermittelst du ernsthaftes Interesse."

„Ich weiß nicht.", zweifelte Henry zurückhaltend.

Nate drückte Henrys Schultern bekräftigend und sah ihm ermutigend entgegen: „Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt. Wenn du den ersten Schritt gemacht hast, wird das Gespräch schnell ganz einfach und du kannst dir ihre Nummer holen oder dich mit ihr verabreden."

„Und das klappt?", Henry sah skeptisch zwischen Nate und dem blonden Mädchen hin und her.

„Glaube mir. Damit hatte ich bis jetzt fast immer Erfolg.", ermunterte er meinen kleinen Bruder zu einem seiner Anmachtaktiken, was mir überhaupt nicht gefiel. Er sollte doch nicht auch noch so ein selbstüberzeugter, typischer Badboy werden, der mit allem flirtet, was ihm in den Weg kam.

„Übung macht den Meister.", murmelte ich und spielte bewusst auf Nates Frauenaufreißerverhalten an.

Zwar schien er das gehört zu haben, was mir sein minimaler Seitenblick zu verstehen gab, doch er ignorierte meine Bemerkung geflissentlich: „Du schaffst das.", bekräftigte er Henry stattdessen.

Dieser dachte noch ein paar wenige Sekunden nach, ehe er tief durchatmete und mit einem, „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.", zu dem blonden Mädchen schlenderte.

Ich beobachte Henry bei dem schüchternen Versuch auf das Mädchen, was ihm augenscheinlich sehr zu gefallen schien, zuging.

„Hast du meinem fünfzehnjährigen Bruder gerade eine deiner billigen Aufreißertaktiken aufgeschwatzt?"

„Billig würde ich das nicht nennen. Das hat mein persönliches Gütesiegel. Ich meine, wer mag es nicht ein nettes Kompliment zu hören?", erwiderte Nate überzeugt von seiner eigenen Taktik.

„Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass das immer funktioniert?", skeptisch sah ich zu Nate neben mir, zog eine Augenbraue nach oben und verschränkt die Arme vor dem Körper.

Der Blondschopf drehte sich daraufhin zu mir: „Na, na, na, ich würde aufpassen was du verurteilst.", vorsichtig beugte er sich ein wenig zu mir nach unten. Wenige Millimeter an meinem Gesicht vorbei zu meinem Ohr, was mir augenblicklich eine Gänsehaut an Stellen meines Körper verpasste, an denen ich niemals vermutete hätte, dass dort eine Gänsehaut möglich gewesen wäre. Ich spürte seinen warmen Atem an meinem Ohr, strich mir unauffällig über die Arme, um die Gänsehaut schnell wegzubekommen, während ich die Luft anhielt und versuchte dem Drang wegzutreten zu widerstehen. „Bei dir hat das schließlich geklappt, Sonnenschein.", hauchte er mir schlussendlich ins Ohr. Ich konnte sein eingenommenes Grinsen förmlich raushören. Dafür musste ich es nicht einmal sehen.
Und diese Aussage ging mir direkt ins Blut. Sofort entfernte ich mich selbstsicher einen Schritt von ihm, holte wieder Luft und sammelte meine Gedanken. Er konnte wirklich vergessen, dass ich diese Aussage einfach so hinnahm. Ich war nicht eins von diesen dämlichen Püppchen, die er um den Finger gewickelt hatte und ihm verfallen waren nur weil er derart gut aussah oder ihnen irgendwelche schönen Dingen sagte. Ich war nicht so naiv. Das sollte er von mir aus auch spüren. Sein Ego dachte wirklich er wäre die Idealvorstellung eines Freundes für jedes Mädchen. Ich hoffte diese Enttäuschung würde sein Selbstbildnis nicht zu hart treffen.

„Tja, ich würde sagen, das waren nicht die Qualitäten deines Anmachspruchs, sondern der Alkohol in meinem Blut, der die Sicht schon vernebelt hatte. Hätte ich dich richtig verstanden und gesehen wäre das bestimmt nicht passiert.", auch wenn ich mir innerlich eingestehen musste, dass seine Attraktivität einen großen Teil dazu beigetragen hatte. Dennoch würde ich einen Teufel tun, ihm das zu sagen.

Sein rechter Mundwinkel zuckte überrascht etwas nach oben. Nun verschränkte auch er die Arme vor seinem Brustkorb: „Wir wissen beide, dass das nicht der Wahrheit entspricht."

„Wage ich sehr zu bezweifeln."

Nate blickte mir herausfordernd in die Augen: „Dann bin ich ja mal gespannt auf was du unseren zweiten Sex schieben willst.", wartend zog er die Augenbrauen nach oben.

„Emotionale Überforderung.", schoss es aus mir heraus. Was ja auch stimmte. Schließlich hatten die neuen Informationen über Nate mein Gehirn komplett kurzgeschlossen, so dass ich aufgrund eines schwachen Moments mit ihm geschlafen hatte.

„Also weil ich doch ein besserer Typ bin, als du erwartet hast? Verstehe ich das richtig?"

Angespannt ballte ich meine Hände zu Fäusten. Jedes Mal versuchte er meine Aussagen in seinem Sinne zu deuten. Das brachte mich zur Weißglut: „Du...", gerade setzte ich zu einer wütenden Erwiderung an, als Henry dazwischen funkte: „Danke, Nate. Wirklich."

Verblüffte schnellten unsere Blicke zu Henry, der sein Handy in der Hand hielt, in welches er triumphierend die Nummer des Mädchens einspeicherte: „Es hat funktioniert."

Siegessicher warf mir Nate ein Grinsen zu, ehe er Henry anerkennend seine Hand gegen die Schulter schlug: „Ich wusste es doch. Die Kleine hatte sowieso schon die ganze Zeit zu dir geschaut.", lachte er. „Darauf holen wir uns jetzt Nachos.", siegreich gingen die zwei Jungs zur Schlange der Snacks.

Auch wenn ich es nicht gern zugab: Nate hatte Henry wirklich geholfen. Vielleicht war Nate genau das, was mein kleiner Bruder brauchte. Einen etwas älteren Jungen, zu dem er aufsehen konnte. Der war wie ein Bruder und ihm diese Art von Ratschlägen gab.

Gott, wieso war Nate nur so unfassbar beliebt bei meiner Familie. Das bereitete mir Angst.
Und wieso bereitete mir das Angst, anstatt mich zu freuen? Schließlich sollte ich mich freuen, wenn sich ein Freund mit meiner Familie verstand. Wieso verhielt ich mich dann ständig so abweisend?

Zugegeben ich genoss den Schlagabtausch zwischen uns. Aber manchmal ging ich vielleicht unnötigerweise eine Diskussion ein oder zu weit. Ich wusste wirklich nicht, was mit mir los war.
_____________________________
Ich wollte mich bei euch für die vielen Reads bedanken. Es gaben unglaubliche 1K in das Vorwort reingeschaut und damit in diese Story geblickt. Das macht mich super glücklich! Mal von den ganzen motivierenden Kommentaren und Votes abgesehen.

Thank youuuuuuuu!

Euch ein superschönes Wochenende!

xx Jenny

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