~55. Mittelmäßig~

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Ich brauche einen Moment, um mich wieder zu fangen und als Antwort zumindest leicht zu nicken. Minghao hat mich, mit dem was er gesagt hat, komplett überrascht und überrumpelt.

Als Hao mein Nicken sieht, lächelt er glücklich. Dann verabschiedet er sich und geht.

~*~

'Endlich wieder hier', denke ich, als ich nach Wochen, das erste mal wieder im Trainingsraum vor den großen Spiegeln stehe und mich aufwärme.

Ich bin über die Feiertage, Weihnachten und Neujahr, nach Hause zu meiner Familie geflogen. Ich hatte es ihnen versprochen und bin heute erst wieder zurückgekommen. Natürlich bin ich dann direkt hierher gekommen. Ich habe schließlich Wochen an verpassten Training wieder aufzuholen.

Ich habe auch Hao geschrieben und gefragt, ob er kommen könnte, denn was ich in der Zeit Zuhause erneut bemerkt habe: Singen ist nicht meine Stärke. Ich bin höchstens mittelmäßig und an Rap traue ich mich nicht ran. Ich brauche auf jeden Fall Hilfe. Allein mit Tanz werden sie mich bestimmt nicht nehmen.

"Hey-yo! Na du, wieder im Land?"
Ich schaue in den Spiegel und sehe einen ziemlich bunten Vernon auf mich zukommen.

Und wenn ich bunt sage, meine ich bunt.
Er trägt einen tie-dye Pullover, eine strahlend gelbe Beanie und eine Brille mit lila Gläsern. Das einzige was nicht bunt ist, sind seine Jeans und seine Schuhe, sie sind blendend weiß. Er hat schon seinen ganz eigenen Stil, aber irgendwie passt es zu ihm und steht ihm auch. Er sieht cool damit aus.

Nachdem ich den Schock Vernons strahlend farbiger Präsenz verdaut habe, verbeuge ich mich kurz als Begrüßung und antworte ihm dann freudig: "Hey! Ja, grade erst angekommen."

"Und gleich wieder am trainieren? Was für eine gute Einstellung", lobt er mich und gibt mir einen Daumen hoch.

"Apropos trainieren, Vernon. War Minghao im Dorm? Er antwortet mir nicht auf meine Nachricht", frage ich, während ich nochmal prüfe, ob er vielleicht doch geantwortet hat. Aber nein, immernoch nichts.

Bei der Frage kratzt sich mein Gegenüber kurz verlegen am Nacken: "Eight nicht, der ist im Studio, sein Solo aufnehmen. Sein Handy liegt aber in der Dormküche und ich habe die Nachricht von dir aufblinken gesehen.... Wollte nicht, dass du hier ewig allein wartest, deshalb dachte ich, ich schau mal vorbei."
Dann schaut er mich fragend an: "Das ist doch nicht schlimm, oder?"

Ich schüttel mit dem Kopf.
Dass er einfach Haos Nachrichten liest, vielleicht. Dass er gekommen ist aber nicht. Er kann mir garantiert auch helfen.
Trotzdem vermisse ich Hao und hätte ihn gerne gesehen.

"Ich hab Eight über Woozi bescheid gegeben, dass wir hier sind. Er kommt bestimmt noch. Bis dahin, wirst du dich wohl mit mir zufrieden geben müssen", scherzt er und legt mir einen Arm um die Schulter und schaut mich an "Also, wie kann ich helfen?"

"Sag mal... du kannst doch singen, oder?", frage ich vorsichtig zurück.

"Ich bin Rapper", antwortet er mir und ich kann sehen, wie er schüchterner wird.

"Ich weiß, aber singen kannst du trotzdem. Es gibt genug Videos auf Youtube, die das beweisen. Kannst du mir helfen, Singen zu lernen? Bitte bitte." Ich wende Haos Trick des niedlich Guckens an und es scheint zu funktionieren.

Jedenfalls wird Vernon ziemlich rot im Gesicht. "Ich kanns versuchen. Sing mal etwas, dann kann ich Tipps geben", schlägt er vor.

So verbringe ich die nächste halbe Stunde damit, 'I'm Yours' von Jason Mraz zu singen, ein englischsprachiges Lied, damit ich nicht so viele Text- und Sprachenprobleme habe.
Vernon gibt mir dabei professionelle Tipps, doch irgendwie ändert sich gar nichts.

"Mittelmäßig bleibt wohl mittelmäßig", gebe ich mich geschlagen und lege mich mit dem Rücken auf den Boden.

"Man wird kein Topsänger an einem Abend. Ich dachte eigentlich nicht, dass du zu denen gehörst, die schnell aufgeben", belehrt mich Vernon und er hat auch recht, aber irgendwie fühlt sich Singen nicht richtig an.

"Aufgeben und erkennen, dass einem etwas nicht liegt, sind zwei verschiedene Paar Schuhe", kontere ich ihn und zucke dann mit den Schultern, "Vielleicht habe ich ja Glück und sie nehmen mich auch so, ohne Vocals oder Rap"

"Tanzen tust du scheinbar ziemlich gut, so überzeugt wie Eight von dir ist. Singen habe ich dich jetzt auch gehört...", spielt er grinsend an.

"Ich werde jetzt nicht rappen", verweigere ich, doch Vernon will sich nicht geschlagen geben,"Probiere es doch mal. Ich kann mir vorstellen, dass dir das liegt. Es muss auch nichts Schnelles sein."

Warum kann ich eigentlich nie nein sagen?
"Ok, aber nur einmal ausprobieren", lege ich fest.

Er überlegt kurz und lächelt dann breit: "'What's good'. Kennst du doch oder?"

"Klar, aber nicht auswendig, sorry" gebe ich ehrlich zu.
Vernon lächelt nur und zuckt mit den Schultern: "Das hätte ich jetzt auch nicht erwartet. Ich könnte dir den Text kurz aufschreiben, wenn du willst."

"Das wäre nett. Unter Druck bin ich schlecht im Texte auswendig lernen", beichte ich und halte mir die Hände vor mein Gesicht. Hätte ich jetzt wirklich den Text lernen sollen, hätte ich wahrscheinlich mehr Probleme mit Texthängern, als dem Rappen an sich.

"Dann solltest du ja jetzt kein Problem haben. Wir sind die einzigen hier und wir haben Zeit ohne Ende. Kein Druck. Du kannst das", spricht er mir Mut zu und klopft mit auf die Schulter.
Dann beginnt er, auf seinem Handy, den Text aufzuschreiben, sodass ich ihn nur ablesen muss.
"Gib mir eine Minute, ja?", meint er kurz und konzentriert sich dann aufs Schreiben.

Ich nicke nur und fange aus Langeweile an, den kleinen Tanz vom Ende von 'What's good' zu tanzen.

Adore UWhere stories live. Discover now