49.

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»Sie verstehen das nicht«, zische ich dem Wachmann leise zu, der mir mit verschränkten Armen den Zutritt ins Kino verwehrt. Er schaut mit einem amüsierten Grinsen zu mir herunter, als ich ihm näher komme und ihm meinen Finger in die Brust bohre. Das Grün seiner Augen scheint belustigt zu funkeln. Ihm macht das Ganze also Spaß?

Ich bin nicht der Mensch, der gerne auffällt, Stress sucht oder sich gerne mit anderen anlegt. Meistens verzichte ich auf mein Recht, weil ich zu wenig Selbstbewusstsein habe, um mich da durch zu kämpfen, aber dieses Mal schiebe ich alle Sorgen beiseite und senke die Hemmschwelle.

Es geht um Kyran, denke ich. Er braucht mich. Wenn ich da drinnen sitzen und ihn brauchen würde, dann würde er dasselbe tun. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.

Er hat so unendlich traurig und verletzt gewirkt, als wir raus gegangen sind. Elijahs Worte müssen ihn ziemlich verletzt haben. Natürlich konnte dieser nicht wissen, dass Kyran mit dem Wort Psycho weit aus mehr verbindet, aber trotzdem bin ich ein wenig sauer auf ihn. Selbst wenn er nicht gewusst hat, dass es Kyran ist und ihn so etwas ziemlich trifft, hat er nicht das Recht überhaupt irgendjemanden als Psycho zu bezeichnen. Nicht zum Spaß, nicht einmal aus Wut.

Vermutlich musste er in dem Moment an seine Schwester denken, dessen Anblick mich immer noch zum Schaudern bringt. Es war schrecklich mit anzusehen, wie sie davon gezerrt wurde - von ihrer Familie getrennt wurde - und vor allem wie sie behandelt wurde, wie diese Männer über sie gesprochen haben. Ich will mir gar nicht vorstellen müssen, wie sich Kyran bei alledem gefühlt haben muss.

Die wenigen Tage, in denen ich die beiden beobachten konnte, habe ich deutlich mitbekommen, wie tief ihre Bindung geht. Dass sie Geschwister sind, die sich nahestehen und lieben - komme was wolle. Das Leid in Kyrans blauen Augen und der Schmerz in seinem verzogenen Gesicht, als man sie ihnen weggenommen hat, war deutlich zu sehen und hat mir den Rest gegeben. Und auch als Elijah ihn eben noch an Romy erinnert hat, habe ich gesehen, wie er mit sich gekämpft hat, wie er mit den Tränen und seinen Gefühlen gekämpft hat.

Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt umgekippt und auf den Boden gefallen ist. Vielleicht weint er, vielleicht beißt er sich nur auf die Lippen, um den Schmerz zu vergessen, der in seiner Brust herrscht. Aber eins ist ganz sicher: Er. Braucht. Mich. Jetzt. Irgendjemanden, der ihm nahesteht und über seine Schwester bescheid weiß - wenn auch nicht viel und nur durch Zufall.

»Lassen Sie mich bitte durch«, sage ich nicht mehr ganz so ruhig und weniger freundlich. Meine Stimme klingt fremd, nicht mehr wie meine eigene. Es ist, als wäre die Mia, die gerade seit gut zehn Minuten mit diesem Muskelprotz-Wachmann diskutiert nicht mehr die Mia, die sie sonst ist.

Mit mehr Nachdruck schiebe ich hinterher:»Ich muss da wirklich rein.«

Ich schaue schnell über die Schulter und sehe zu Elijah, der weiter hinten - auf meine Bitte - an einer Laterne lehnt. Er soll bloß nicht wissen, was ich hier mache, denn sonst fliegt am Ende noch die ganze Dachte mit Kyran auf. Falls er später fragen sollte, werde ich mir eine meiner erstklassigen Lügen ausdenken müssen.

Als sich unsere Blicke treffen, lächle ich ihm zu und schaue kurz daraufhin wieder den Wachmann an. Ich bin mir jetzt schon sicher, dass er inzwischen die Nase voll von mir hat und mich nicht mehr sehen will. Vermutlich überlegt er sich gerade einen Grund, um das Date hier und jetzt zu einem Ende zu bringen.

»Bitte?«, frage ich kleinlaut, angesichts der vielen Muskeln, die seine Arme schmücken. Ein Bitte muss ihn und sein steinkaltes Herz doch zum Erwärmen bringen. Wenn er mich jetzt immer noch stehen lässt, kommt er auf meine Liste der meistgehassten Menschen, die ich dann erst erstellen muss, aber alles fängt schließlich mit irgendetwas an.

Ich schlucke, während mein Blick über seine tätowierten Arme fährt. Er bräuchte nur einen Griff, um mich in die Fänge zu nehmen und über den Parkplatz zu ziehen, aber er scheint es zu genießen, mich auf die Palme zu bringen. Das spüre und sehe ich am belustigten Funkeln in seinen Augen.

Er schüttelt amüsiert den Kopf. »Nein.«

»Nur ganz kurz«, bettle ich erneut. Ich gebe alles, was ich kann, was scheinbar nicht genug zu sein scheint, denn er schüttelt aufs Neue den Kopf und wiederholt seine Worte:»Nein.«

»Es ist unglaublich unglaublich dringend. Es geht um...äh, naja, auf jeden Fall ist es sehr sehr wichtig.«

»Nein«, sagt er, immer noch sichtlich belustigt. Ich schnaube wütend auf. So ein ignoranter und eiskalter Kerl ist mir ja noch nie untergekommen. Am liebsten würde ich ihm den Kopf abreißen - dabei bin ich eigentlich sonst immer eine sehr friedliche Person. Aber besondere Situation erfordern nun mal besondere Maßnahmen und das hier ist definitiv eine.

»Mistkerl«, murmele ich wutschnaubend. Mir ist egal, ob mein Verhalten Konsequenzen mit sich trägt oder ob es ihn verletzt - wobei ich letzteres bezweifle. Hierbei geht es nur um Kyran. Er braucht mich, verdammt noch einmal.

Ich drehe mich um und gehe in Richtung Elijah, der mich mit gerunzelter Stirn mustert, während er immer noch am Laternenmast lehnt. Er fragt sich vermutlich, was los mit mir ist. Den ganzen Abend über habe ich mich ziemlich seltsam benommen. Körperkontakt habe ich abgelehnt, auch wenn am Ende jedes Mal Kyran derjenige gewesen ist, der dazwischen gegangen und mir geholfen hat und dann die Sache mit dem alten Mann. Das war wohl nicht nur mein erstes und schlimmstes Date, sondern auch das letzte.

Auf dem halben Weg zu Elijah höre ich etwas. Eine Stimme in mir drinnen, die mir etwas zu ruft: Lass das nicht auf dir sitzen. Zeig es dem Muskelprotz-Idioten. Und geh da rein.

Ich drehe mich wieder um und renne los, ohne nachzudenken oder meinen Plan zu überdenken. Meine Beine bewegen sich wie von selbst, als ich an dem Wachmann vorbei und auf den Eingang zu laufe. Ich bin schnell - jedenfalls dafür, dass ich sonst so unsportlich bin - aber nicht schnell genug, denn bevor ich einen Fuß in das Kino setzen kann, packt mich das Arschloch an der Hüfte, als würde ich nichts wiegen - wie einen Sack Kartoffeln - wirft mich über die Schulter und geht auf Elijah zu, um mich neben ihm wieder abzustellen.

Als er sich dieses Mal zu mir nach unten beugt, nachdem ich wieder auf eigenen Beinen stehe und einigermaßen klar sehen kann, wirkt er lange nicht mehr so amüsiert. »Wenn du heute noch einen Schritt näher an dieses Kino trittst, rufe ich die Bullen. Ist das klar?«

Ich will ihm ins Gesicht spucken, auch wenn ich nicht weiß, woher dieser plötzliche Impuls kommt, will mich auf ihn werfen und ihm seine verdammten Augen ausreißen, auch wenn er nur seinen Job erledigt, aber bevor ich irgendetwas machen kann, packt mich Elijah an der Schulter und zieht mich hinter sich. »Alles klar. Wir gehen jetzt. Kein Grund, die Polizei zu rufen.«

»Nein«, protestiere ich, als Elijah mich hinter sich her zieht, zum Parkplatz. Ich werfe einen Blick zurück zu dem Terminator, als ich einen leisen Schatten erkenne, der aus dem Kino tritt und als er unter dem Licht der Laterne steht, erkenne ich ihn.

Er trägt zwar noch die ausgewaschene Hose, mit dem weißen Hemd und den Hosenträgern, aber der Bart, der Stock und auch der lächerliche Hut sind weg und geben einen Blick auf sein wahres Gesicht frei.

Es ist Kyran. Und zwar nicht in seinem Opa-Kostüm, sondern so, wie er immer aussieht, so wie ich mich in ihn verliebt habe. Auch wenn er, nebenbei bemerkt, selbst als alter Mann noch attraktiver erscheint als manch ein Junge in unserem Alter.

Mit einer Handbewegung gibt er mir zu verstehen, mich von Elijah ins Auto ziehen zu lassen und zu dem Diner zu gehen, dass er vorgeschlagen hat. Ich kann nicht anders, als zu strahlen, als er da steht und sich durch die Haare fährt. Seine lächerliche Aufmachung erinnert mich an die Kleidung, die Leonardo DiCaprio als Jack Dawson in Titanic getragen hat.

Ich versuche mir das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen und schnell wieder nach vorne zu schauen, bevor Elijah bemerkt, dass ich immer noch nach hinten schaue und dasselbe tut.

Den ganzen Abend über hatte ich verdammt viel Spaß und habe ziemlich viel gelacht, aber das liegt nicht an Elijah, sondern einzig und allein an Kyran.

KyranWhere stories live. Discover now