03.

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Als die Claes' damals nebenan eingezogen sind, war das ein ganz großes Ereignis für mich. Es war ein ganz besonderer Tag. Meine Mutter ist an dem Morgen, als der LKW mit den Möbeln in die Einfahrt fuhr, in mein Zimmer gestürmt. An jedem anderen Samstag hätte sie mich ausschlafen lassen, aber nicht an diesem.

»Mia«, hat sie geflüstert und mich liebevoll wachgerüttelt. »Mia, die neuen Mieter sind da. Sie haben einen Sohn. So wie es aussieht, ist er in deinem Alter.«

Ich bin sofort aufgesprungen, als ich das gehört habe. Mein achtjähriges Ich war Feuer und Flamme diesen neuen Jungen kennenzulernen und mit ihm im Garten zu spielen, Geheimnisse auszutauschen und gemeinsam zur Schule zu fahren. Ich war es leid immer alleine sein zu müssen, denn leider lebte in unserem Viertel sonst kein Kind, das im selben Alter wie ich gewesen ist. Sämtliche Nachmittage und Wochenenden habe ich alleine verbracht. Meine Eltern konnten mich schlecht jedes Mal an das andere Ende der Stadt, zu Tessa, fahren.

Also habe ich all meine Hoffnung in diesen kleinen Jungen gesteckt, der gerade erst nebenan eingezogen ist. Ein Junge, den ich nicht kannte, von dem ich nichts wusste. Ich habe nachgedacht, mir überlegt was ich sagen soll, wie ich ihn dazu bewegen könnte, sich mit mir anzufreunden. Es war meine einzige Chance endlich einen neuen Freund kennenzulernen - nicht, dass Tessa mir nicht genügt hätte.

Meine Mutter und ich haben den ganzen Morgen in der Küche verbracht. Wir haben einen Kuchen gebacken, den ich schließlich dekorieren durfte. Sie hat es mir überlassen, mich für eine Sorte zu entscheiden. Ich weiß noch ganz genau, dass ich mich für einen Schokokuchen entschieden habe. Mom hat lachend den Kopf geschüttelt. »Wieso denn Schokolade, Mia?«

»Weil jeder Schokolade mag«, habe ich durch den Raum hüpfend gerufen. Ich war so aufgeregt, dass ich keine Sekunde stillsitzen konnte. Meine Mutter ist nicht meiner Meinung gewesen, sie hat aber dennoch, mir zu Liebe, einen Schokokuchen gebacken. Am Ende durfte ich ihn noch mit Nutella füllen und Streusel drüber werfen. Als ich mein Werk schließlich betrachtete, wusste ich, dass er Kyran so sehr schmecken musste, dass dieser unbedingt mit mir spielen wollte. Ich wusste, dass wir uns prima verstehen würden und beste Freunde werden mussten. Für mich stand es in den Sternen geschrieben, aber das Leben schien andere Pläne für uns beide bereit gehalten zu haben.

»Das nenne ich mal eine Kalorienbombe«, hat meine Mutter gelacht und obwohl ich nicht wusste, was das hieß, habe ich mitgelacht. Ich war einfach so glücklich darüber, dass Kyran eingezogen war, so unendlich froh. Nichts konnte meine Stimmung in diesem Moment verderben. Das habe ich jedenfalls gedacht.

Als auch mein Vater schließlich aufgewacht ist, sind wir drei zu den Claes' rübergegangen. Es war ein schöner Morgen. Ich erinnere mich heute noch daran, dass die Sonne schien und der Himmel so klar gewesen ist, dass ich mich am liebsten in ihn gestürzt hätte. Das Wetter, habe ich gedacht, will mir zusprechen, es will mir Mut geben.

Die meisten Umzugskartons standen völlig verstreut im Vorgarten oder in der Einfahrt herum. Fremde Männer traten aus dem Haus und liefen wieder herein. Sie wirkten verschwitzt und müde.

Mom hat mir den Kuchen in die Hand gedrückt und mich in Richtung Haustür gedrängt. Mir wurde mit einem Mal schlecht, als mein Vater die Hand ausstreckte und auf die Klingel drückte. Meine Eltern standen dicht hinter mir und dennoch bekam ich es plötzlich mit der Angst zu tun, als ein großer Mann lächelnd die Tür öffnete. Sein Blick fiel auf mich und er lachte. »Oh, hallo, wer bist du denn?«

Ich antwortete nicht, aber das schien keinen der Älteren zu stören, sie schüttelten sich die Hände, stellten sich gegenseitig vor und lachten. Irgendwann beugte sich meine Mutter zu mir und flüsterte: »Stell dich auch den neuen Nachbarn vor, Schatz.«

»M-mein Name ist Mia Bahrs«, habe ich schließlich gestottert und gleichzeitig die Hände mit dem Kuchen ausgestreckt. Der Mann lachte, so als freute er sich wirklich über diesen Kuchen.

Erst dann ist er mir aufgefallen. Der Junge, der hinter dem Mann stand. Kyran. Er versteckte sich hinter seinem Vater, lugte ängstlich hinter dem Rücken dieses großen Mannes hervor, als habe er Angst vor uns. Er musterte meine Familie und mich mit seinen großen, wachsamen Augen, so als befürchte er etwas. Als sah er eine mögliche Bedrohung in uns. Seine Finger bohrten sich in das Hemd seines Vaters, als habe er Angst, dass er verschwinden könnte, als habe er Angst davor, dass wir ihn ihm wegnehmen könnten.

Und obwohl ich nichts sehnlicher wollte, als einen Freund in der Nachbarschaft, wusste ich in diesem Augenblick, dass Kyran und ich wohl nie Freunde werden würden, dass wir nie im Garten spielen und durch den Rasensprenger laufen würden. Dass wir nie ein Baumhaus bauen und uns darin verstecken würden, um Geheimnisse auszutauschen, während unsere Eltern nach uns suchten. Meine ganzen Hoffnungen brachen in diesem einen Moment in sich zusammen, als ich ihm in seine blauen, ängstlichen Augen gesehen habe. Augen, die schon zu viel gesehen zu haben schienen.

»Erde an Mia.«

Ich schaue auf. Tessa wedelt mit der Hand vor meinen Augen herum. Ich sehe betroffen auf mein Tablett und schüttele den Kopf, als mir klar wird, dass wir in der Mensa sitzen. »Tut mir leid. Ich habe wohl geträumt.«

»Uhh, ein Tagtraum.« Tessa grinst breit. »Erzähl mir davon. Warte, warte! Hat es mit...«, sie beugt sich über den Tisch zu mir vor und flüstert: »Kam ein gewisser Kyran Claes in diesem Traum vor?«

Ich starre sie entsetzt an. Tessa hat mich einmal im Gang mit ihm reden sehen und jetzt denkt sie sofort, dass ich auf ihn stehen würde? Wahrscheinlich ist das immer noch besser, als wenn sie die Wahrheit erfahren würde. Die Wahrheit ist nämlich die, dass Kyran von nun an mein Lehrer in Sachen Liebe sein wird.

Tessa lässt mich gar nicht zu Wort kommen, stattdessen schüttelt sie den Kopf. »Warte, warte. Eins muss ich noch wissen, bevor es ernst wird: ist der Traum auch ganz sicher jugendfrei?«

Ich starre sie entsetzt an, doch Tessa prustet einfach drauf los. Und während sie laut vor sich hin lacht, sinke ich immer tiefer in meinen Sitz, wünsche mir, unsichtbar sein zu können, denn sämtliche Köpfe in der Cafeteria drehen sich zu uns beiden um.

KyranWhere stories live. Discover now