06.

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»Was war das denn?«, fragt Tessa ganz entsetzt, als meine Mutter Kyran an der Haustür verabschiedet und ihm vorgeschlagen hat, doch öfter mal vorbeizukommen. Sie setzt sich neben mich, auf den Stuhl auf dem Kyran gerade eben noch gesessen hat. Ihr Blick drückt tiefe Verwirrung aus. »Du verheimlichst mir doch irgendetwas.«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Wir haben nur Hausaufgaben gemacht.«

Tessa hebt eine Braue und ich sehe den anklagenden Ausdruck in ihren Augen, als würde er mir sagen wollen Du lügst deine beste Freundin an! Und obwohl ich nichts lieber täte, als ihr die Wahrheit zu sagen, bringe ich es einfach nicht übers Herz. Was würde sie von mir denken, wenn sie von Kyran und meinem Deal erfahren würde? Das wäre die reinste Katastrophe.

»Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein«, flüstert Tessa, sie wirkt ehrlich gekränkt. Ihre blauen Augen bohren sich in meine braunen. »Seid ihr zusammen? Stehst du auf ihn?«

Ich lache, angesichts dieser absurden Behauptung, die nun wirklich nichts mit der Wahrheit gemein hat. »Im Leben nicht! Wie könnte ich denn auf so einen Jungen stehen?«

Sie sieht mich irritiert an, runzelt dabei die Stirn. »Wieso denn nicht?«

»Weil...« Ich denke nach, überrascht über ihre Frage. Eine simple Frage, die eine noch simplere Antwort verlangt, aber mir will beim besten Willen nichts einfallen. Warum könnte ich mich nie in Kyran verlieben? Müssten mir da nicht unzählige Punkte und Eigenschaften einfallen? Müsste mir nicht eine Erklärung nach der anderen aus dem Mund springen? Aber ich sitze immer noch hier, stumm und darüber grübelnd, während Tessas Blick auf mir lastet, wie ein schwerer Stein. »Na, weil...«, beginne ich meinen zweiten Versuch, aber ich komme einfach nicht weiter, bis ich schließlich aufgebe.

Tessa grinst boshaft. »Also, bist du doch in ihn verliebt?«

Ich schüttele stumm den Kopf, denn das entspricht der Wahrheit. Wir haben jahrelang kein Wort miteinander gewechselt, wie kann ich mich da von heute auf morgen einfach so in jemanden verlieben? Ich bin nervös, wenn er mich berührt oder ansieht, aber das wäre ich bei jedem anderen Jungen auch, denn ich bin es einfach nicht gewöhnt. Bin solche Berührungen nicht gewöhnt. Ich bewege mich auf einem ganz neuen Terrain.

Kyran ist nett - jedenfalls habe ich noch nie etwas über ihn gehört oder gesehen, dass meine These umstürzen könnte. Er kann vielleicht gemein sein, aber er meint es nicht böse, so sehe ich das bis jetzt. Die letzten zwei Tage haben mir einen kleinen Einblick in seine Welt erschaffen, einen Blick auf seine Persönlichkeit und sein Verhalten. Es ist nicht viel gewesen, aber dennoch erhoffe ich mir, mehr über ihn erfahren zu dürfen. Ich würde gerne mehr wissen, über diesen kleinen, ängstlichen Jungen mit den großen, wachsamen Augen.

Die Mädchen in der Umkleide reden nach dem Sportunterricht oft über ihn, aber sie reden auch über andere Jungs. Einmal habe ich gehört, wie ein Mädchen erzählt hat, dass sie mit Kyran auf einem Date gewesen ist und ich weiß noch, wie mir in diesem Moment schlecht wurde. Vor Neid. Ich war nicht neidisch, weil sie mit Kyran auf einem Date gewesen ist, sondern über die Tatsache, dass sie sich getraut hat, einen Jungen auf ein Date einzuladen. Ich wollte auch so mutig sein.

»Das zwischen uns ist eher so etwas wie eine... naja, Freundschaft«, sage ich, während ich mich am Hinterkopf kratze. Freundschaft, dass ich nicht lache. Tessa sieht immer noch wenig überzeugt aus, aber irgendwann verabschiedet sie sich, weil sie noch Hausaufgaben zu erledigen hat.

An der Haustür fange ich sie noch einmal ab. Sie hebt fragend eine Augenbraue. »Warum bist du eigentlich vorbeigekommen?«

»Ich wollte dich eigentlich fragen, was heute Morgen mit dir gewesen ist, weil ich dich schlecht im Unterricht darauf ansprechen konnte.« Ihr Grinsen geht bis über beide Ohren. »Aber das hat sich wohl von selbst erledigt.«

Ich starre sie an, bevor ich schnell sage: »Ich bin nicht-«

»Ich glaube dir kein Wohooort!«, ruft sie mir dazwischen, während sie zum Bus läuft und mir zum Abschied zuwinkt. Mir bleibt keine Möglichkeit, ihr zu sagen, dass sie total daneben liegt mit ihrer Behauptung, aber wäre ich in ihrer Lage, würde ich vermutlich dasselbe denken. Doch leider schaffe ich es nicht, ihr die Wahrheit zu sagen.

Am Abend sitzen Mom, Dad und ich beisammen und essen. Meine Mutter grinst schon den ganzen Nachmittag über, seit Kyran bei uns aufgetaucht ist. Ich weiß nicht wieso sie sich so sehr darüber freut, aber meinem Vater scheint ihre gute Laune irgendwann auch aufzufallen. Er schaut zwischen Mama und mir hin und her, doch ich versuche seinem Blick so gut es geht auszuweichen.

»Okay, was ist hier los?«, fragt Paps schließlich, als ihn die seltsame Situation unangenehm zu werden scheint. Bevor ich überhaupt zu einer Antwort ansetzen kann, redet meine Mutter schon munter drauflos, so als hätte sie diesen Moment herbeigesehnt. »Unser Kind ist zum ersten Mal verliebt.«

Paps und ich reißen gleichzeitig die Augen auf. Während mein Vater mich anstarrt, als hätte ich soeben verkündet, ein Einwohner aus einer entfernten Galaxie zu sein, werfe ich meiner Mutter einen anklagenden Blick zu. Sie kann doch nicht einfach so eine Lüge in die Welt setzen! Doch meine Mutter scheint das wenig zu interessieren, ihr Grinsen wird nur noch breiter, während ihre Augen zu leuchten beginnen.

»Du bist verliebt?«, fragt mein Vater schließlich, als würde der Gedanke daran, dass ich verliebt sei total absurd sein. Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich-«

»Bis über beide Ohren!«, unterbricht mich meine Mutter. Ihre Augen verraten, dass sie mit ihren Gedanken nicht länger unter uns zu sein scheint, doch dann redet sie einfach weiter: »Er ist heute nach der Schule vorbeigekommen, um sich vorzustellen. Zu schade, dass du nicht dabei gewesen bist, Carl. Er war so charmant, ganz anders, als die frechen Jugendlichen, die man sonst so auf der Straße sieht.«

Papa sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Von wem redet sie da?«

»Kyran«, antworte ich und verdrehe mit einem flüchtigen Blick auf meine Mutter die Augen. »Aber das ist ein großes Missverständnis. Kyran und ich haben nur für die Schule gelernt. So eine Partnerarbeit in Chemie. Nicht mehr.«

»Wir sind doch deine Eltern, Mia«, sagt meine Mutter und ich sehe die Herzchen in ihren Augen förmlich pulsieren. »Du kannst uns ruhig die Wahrheit sagen. Kyran wäre bestimmt ein toller Schwiegersohn.«

»Mom!«, rufe ich entsetzt. Aber sie hört mir gar nicht zu und während mein Vater immer noch ziemlich verwirrt zwischen uns beiden hin und her schaut, springe ich von meinem Sitz auf und gehe auf mein Zimmer.

KyranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt