33.

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»Mia«, ruft meine Mutter, kurz bevor sie meine Tür öffnet. Ich stecke in der kleinen Ritze zwischen der Wand und meinem Bett, begraben unter meiner Decke und unzähligen Kissen, während ich Bärteddy an meine Brust drücke und mich selbst bemitleide und mir die schrecklichsten Horrorszenarien vorstelle, die mir in dem Moment in den Kopf kommen. Meine Vorstellungskraft geht von einem kleinen Gespräch auf der Bank im Pausenhof, über ein Date bis hin zu dem Gedanken daran, dass Kyran Anne zu sich nach Hause eingeladen hat, dass sie sieht, was ich gesehen habe und die Erinnerung an sein Zimmer dadurch verblasst. Denn, sind wir mal ehrlich, wie besonders kann dieser Moment zwischen uns für ihn gewesen sein, wenn er es mit mehreren Menschen teilt?

»Mia?« Ich höre meine Mutter ins Zimmer kommen. »Sie ist vorhin in ihr Zimmer gegangen und seitdem nicht herausgekommen. Ich weiß nicht, wie sie sich heraus schleichen konnte«, sagt sie und im ersten Moment habe ich die lächerliche Hoffnung, dass es sich bei dieser Person, mit der sie da spricht, um Kyran handelt, doch dann kann ich Tessas Schuhe erkennen, als ich durch den Schlitz unter meinem Bett schaue. Schnaubend hebe ich eine Hand hervor, in der Hoffnung, dass sie mich dann sieht und murmele:»Ich bin hier unten.«

»Kümmere dich bitte um sie«, höre ich meine Mutter schon sagen und ich kann mir vorstellen, dass sie gerade den Kopf schüttelt. Seit ich zu früh von der Schule zurück gekommen bin, habe ich kein Wort zu ihr gesagt. »Ich weiß wirklich nicht was los ist, auch wenn ich es mir irgendwie denken kann. Aber dieses Verhalten passt gar nicht zu ihr, das müsstest du doch am besten wissen.«

Am liebsten würde ich aus meiner Ecke kriechen und rufen: Hey Leute, nur weil ihr mich nicht seht, heißt das nicht, dass ich auch nicht da bin, doch das zu tun, würde mich viel zu viel Energie kosten und weil ich gerade all meine Kraft ins Weinen stecke, schiebe ich diese Idee ganz schnell wieder beiseite.

»Sie ist zum ersten Mal verliebt, Doris, da spielen die Hormone verrückt«, flüstert sie, so als könnte ich sie dadurch nicht hören, dabei steht sie in meinem Zimmer, kaum zwei Meter entfernt von mir. Meine Mutter seufzt ganz theatralisch, als käme der Gedanke daran, dass ihre einzige Tochter verliebt ist, einer Apokalypse gleich. »Aber wenn man verliebt ist, dann verhält man sich doch nicht so«, sagt sie leise, aber sie spricht immer noch lauter als Tessa und macht es mir daher nicht schwer, ihrem Gespräch weiter zu lauschen. Tessa zögert kurz, das weiß ich, weil ich sie lange genug kenne, um zu wissen, dass sie meistens so schnell redet, dass ihre Antworten immer wie eine Rakete aus dem Mund geschossen kommen, doch dieses Mal dauert es einige Sekunden und mir fällt auf, dass ihre Stimme so leise ist, dass ich nur das Geflüster höre, aber nicht die Worte selbst. Sie muss wissen, dass ich lausche. Auch wenn ich ihre Antwort nicht wirklich höre, kann ich mir denken, was sie sagt, denn die entsetzte Reaktion meiner Mutter ist mehr als eindeutig.

»Keine Sorge, ich rede mit ihr«, sagt Tessa, dieses Mal wieder lauter und dann schließt sie die Tür. Ich kann außer ihr niemanden mehr hören, also gehe ich mal davon aus, dass meine Mom endlich wieder gegangen ist. Nicht, dass ich sie nicht gerne habe, aber über so etwas mit der eigenen Mutter zu reden, ist mir dann doch irgendwo peinlich.

»Weißt du«, sagt sie, während sie in meinem Zimmer auf und ab läuft, »eigentlich hat man keine Geheimnisse vor seinen besten Freunden und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das bereits weißt. Naja, und weil ich mindestens genauso sicher bin, dass es dir unglaublich leidtut und du dich am liebsten auf die Knie werfen und mich zehntausend Mal um Entschuldigung bitten willst, achja und weil ich dich liebe, werde ich dir verzeihen. Dieses Mal jedenfalls.«

Ich setze mich langsam auf, die Decke immer noch über den Kopf gezogen. Tessa steht am anderen Ende meines Zimmers, sie lehnt am Fensterbrett und lächelt mich an. Ihre blauen Augen strahlen, fast als würde sie sich darüber freuen, dass ich endlich aus meinem lächerlichen Versteck gekrochen bin. Ich krabbele vorsichtig auf mein Bett, werfe die Decke zur Seite und wische mir über die Augen, auch wenn ich in der letzten halben Stunde keine einzige Träne mehr vergossen habe. Obwohl ich immer noch den Drang dazu verspüre, weinen zu wollen, kann ich es nicht, so als wären meine Tränen aufgebraucht. Als würde mir mein Körper sagen wollen, dass ich zu viel geweint habe, dass ich genug geweint habe, dass diese Situation keine Träne mehr wert ist.

Tessa kommt auf mich zu, das Mitleid in ihren Augen ist unübersehbar. Sie wirft sich neben mich auf mein Bett und drückt mich in eine enge Umarmung. »Das tut mir so leid«, flüstert sie in mein Haar, während sie mir beruhigend über den Rücken streicht, so wie ich es jedes Mal bei ihr getan habe, wenn sie Ärger mit einem Jungen, ihren Eltern oder auch der Schule hatte. Es ist seltsam, zu sehen, dass sich das Blatt auf einmal gewendet hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal diejenige sein werde, die wegen einem Jungen weint und unter Liebeskummer leiden wird und ich hätte nie gedacht, dass Tessa meine Rolle übernehmen wird.

»Okay«, meint sie dann irgendwann, setzt sich neben mich in den Schneidersitz und sieht mir tief in die Augen. »Willst du es mir sagen? Ich habe zwar nie nachgefragt, aber ich habe mich schon die ganzen Wochen und Monate über gefragt, wieso ihr wie aus dem Nichts plötzlich miteinander zu tun habt. Immerhin seid ihr seit Jahren Nachbarn und du hast ihn nie auch nur mit einem Wort erwähnt.«

Ich lächle bei dem Gedanken an den Abend, als er einfach so in mein Zimmer geklettert ist, nachdem mein lächerlicher Zettel ihn am Kopf getroffen hat. Die Vorstellung, wie er auf seinem Dach lag und plötzlich dieses dumme Stück Papier an den Kopf bekommen hat, bringt mich beinahe zum Lachen, doch dann erinnere ich mich an heute, an Anne und Kyran. Bevor ich wieder anfange zu weinen, beginne ich zu erzählen. Ich erzähle Tessa alles, wirklich alles. Ich erzähle von der Liste, von seinem Angebot, von unseren Treffen, unserem Ausflug und woher ich Anne kenne, was ich dann getan habe und wie er reagiert hat.

Erst als ich am Ende meiner Geschichte angekommen bin, fällt mir auf, dass ich weine. Tessa lächelt aufmunternd, sie holt ein Taschentuch aus ihrer Tasche und hält es mir hin, während sie mir beruhigend über den Rücken streicht. Es ist, als ertrinke ich in meinen eigenen Tränen. Immer wenn ich denke, dass mein Körper vollkommen leer ist, fange ich schon wieder an. Ich sehe ihre roten Haare vor mir, wie sie Kyran berührt und er lacht und habe das Gefühl, dass sich mein Brustkorb zusammenzieht und ich kaum noch Luft bekomme.

»Ich...ich glaube, ich liebe ihn, Tess.«

Ihre Augen werden ganz groß, der überraschte Blick in ihren Augen ist nicht zu übersehen. »L-lieben?« Sie presst kurz die Lippen aufeinander und sagt dann:»Bist du dir sicher?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber wenn das Liebe ist, dann will ich sie nicht spüren, denn es tut so weh«, sage ich leise und drücke meine Hand auf die Brust. »Sollte Liebe nicht schön sein? Einen glücklich machen?« Ich wische mir schniefend über die Augen. »Warum fühle ich mich dann so elendig? Warum tut es so weh?«, frage ich, aber ich weiß, dass ich die falsche Person frage. Tessa hatte schon einige Beziehungen und war auf unzähligen Dates, aber sie hat keinen von diesen Jungen geliebt. Warum sonst, haben diese Beziehungen nie länger als ein Monat gehalten? Müsste Liebe nicht stark genug sein, um eine halbe Ewigkeit oder länger zu halten?

»Es muss wehtun, Mia. Der Schmerz gehört dazu«, sagt sie leise und drückt meine Hand. »Eine Liebe ohne Schmerzen ist keine richtige Liebe.«

»Ich will das aber nicht mehr fühlen«, schluchze ich und drücke eins der Kissen, um mich herum an mein Gesicht, damit Tessa mein jämmerliches Gesicht nicht mehr sehen kann. »Kann ich es nicht abschalten?«

Tessa legt die Arme um mich, legt ihr Kinn auf meinen Kopf und sagt ganz leise:»Ich versuche mir etwas einfallen zu lassen. Zuerst einmal musst du Kyran vergessen.«

»Vergessen?« Ich zucke zusammen. »Wie soll ich ihn vergessen, wenn er neben mir wohnt und ich ihn jeden verdammten Tag in der Schule sehe?«

»Du musst ihn einfach aus deinem Leben streichen«, meint sie, während sie mir liebevoll durch die Haare streicht. »Du brauchst...eine Ablenkung.«

Ich habe keine Ahnung wovon sie da spricht.

»Einen anderen Jungen«, erklärt sie, als hätte sie gespürt, dass ich ihrem Gedankengang nicht ganz folgen kann.

»Nein, Tess, ich brauche nicht noch einen Jungen«, sage ich kopfschüttelnd, schließe dann die Augen und seufze. »Ich will überhaupt nichts mehr mit Jungs am Hut haben. Ich habe genug von Liebe.«

Aber Tessa scheint mir gar nicht zuzuhören, denn sie packt mich an den Schultern und sieht mir grinsend in die Augen. Ihre blauen Augen strahlen. »Genau, du brauchst einen anderen Jungen. Einen besseren Jungen. Einen, der hübscher und witziger und viel netter ist als Kyran und ich werde ihn finden. Gib mir nur ein wenig Zeit. Ich brauche Zeit.«

»Tess-«

»Lass mich nur machen«, meint sie und ihr Grinsen hat schon fast etwas angsteinflößendes an sich. Sie fuchtelt lachend mit den Armen in der Luft herum. »Wir finden deinen Prinzen schon, keine Sorge.«

KyranWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu