21.

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Ich liege zusammengekauert auf meinem Bett. Meine Mutter ist noch auf der Arbeit, was gut ist, denn so muss ich ihr nicht erklären, warum ich jetzt schon hier bin, dass ich die Schule verlassen habe, dass ich schwänze. Das würde sie nur verletzen und enttäuschen, denn ich habe erst einmal in meinem Leben geschwänzt und ich werde es hoffentlich nie wieder tun. Das eine Mal damals und auch heute ist eine Ausnahme gewesen und wird garantiert nicht noch einmal passieren. Es ging einfach nicht anders. Ich konnte Kyran nicht länger ansehen, diesen verletzten und verlorenen Blick in seinen Augen ertragen. Ich musste da weg.

»Du bist eine Versagerin«, sage ich zu mir, werfe meinen Rucksack gegen mein Bett und schüttele enttäuscht den Kopf. »Du bist eine Versagerin und ein Angsthase und...«

Mir fällt nichts mehr ein. Ich laufe davon, laufe lieber vor meinen Problemen weg, als mich ihnen zu stellen. Zu wem macht mich das? Zu einem Nichtsnutz? Meine Probleme verschwinden nicht einfach nur, weil ich davor weglaufe.

Ich konnte immer damit leben, dass ich nicht so hübsch und süß aussehe, wie einige andere Mädchen an meiner Schule, dass ich nicht so sportlich bin und einen tollen Körper habe, ich konnte mit meinen langweiligen Haaren und dem noch langweiligeren Gesicht leben, mit dem ich geboren wurde, damit dass ich nichts niedliches oder mädchenhaftes an mir habe, dass ich unattraktiv bin, weil ich wusste, dass es wenigstens etwas gab, dass ich kann. Chemie. Aber jetzt versage ich selbst darin. In dem einzigen Gebiet, das mir liegt. Ich bin weder hübsch, noch sportlich oder schlau. Ich bin gar nichts. Wie kann ich jemals jemanden finden, der mich liebt, wenn ich nichts zu bieten habe?

Vermutlich benehme ich mich gerade wie ein Kind, das keine anderen Probleme hat, aber diese Erkenntnis hat mich in Mr. Glines' Raum so heftig getroffen, dass ich anfangen musste zu weinen. Ich konnte gar nicht mehr anders. Dass ich dann auch noch in Kyrans Arme laufen musste, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich wollte, dass er mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass ich auch ohne irgendwelche besonderen Eigenschaften liebenswürdig bin, so wie er es sonst immer macht, aber gleichzeitig wollte ich weglaufen, denn immer mehr übermannen mich meine Gefühle und ich habe so langsam die Sorge, dass ich mich in Kyran verlieben werde, aber das darf ich nicht. Kyran hat offensichtlich keine Gefühle für mich, jedenfalls keine, die über Freundschaft hinausgehen. Es wäre also selbstmörderisch mich in ihn zu verlieben. Andererseits vielleicht ist das, was ich für ihn empfinde auch keine Liebe. Ich weiß doch selbst nicht wie sich wahre Liebe anfühlt, vielleicht ist das, was ich für ihn empfinde nur Dankbarkeit und eine andere Art der Zuneigung.

»Genau«, flüstere ich leise und nicke bekräftigend. »Das muss es sein.«

-

Irgendwann gegen Abend kommt meine Mutter ins Zimmer. Sie klopft leise und schlüpft herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich habe bis vor kurzem noch wie ein Stein geschlafen. Habe vermutlich den ganzen Tag damit verbracht zu schlafen. Ich habe nicht einmal meine Hausaufgaben für Morgen gemacht. Seufzend lasse ich mich zurück in mein Bett fallen. Wann meine Mom wohl nach Hause gekommen ist?

Ich reibe mir über die müden Augen. Mom lächelt, streicht mir mit einer Hand liebevoll durch die Haare und hält mit der anderen Hand das Telefon fest. Ich sehe sie fragend an, woraufhin sie die Hand auf den Hörer legt. »Es ist Kyran«, flüstert sie leise. »Er wollte wissen, wie es dir geht.«

Kyran? Warum ruft er bei uns zu Hause an? Ich drehe mich wütend um, greife nach meinem Handy und dabei weiß ich nicht einmal auf wen ich sauer bin. Auf Mom, dass sie den Hörer abgenommen hat, auf Kyran, weil er angerufen hat oder auf mich, weil ich mich so schwer dabei tue, mit ihm zu reden. Tatsächlich Kyran hat mich unzählige Male versucht zu erreichen und mir sogar mehrere Nachrichten geschrieben. Das schlechte Gewissen kriecht in mir hoch, aber ich versuche es hinunter zu schlucken. »Sag ihm, mir geht es bestens. Ich will jetzt nicht mit ihm reden. Ich, äh, bin müde.«

»Aber Mia...« Mom sieht mich enttäuscht und traurig an, so als hätte sie sich gewünscht, dass ich mit ihm rede. Meine Mutter scheint wirklich ganz vernarrt in Kyran zu sein, zu meinem Pech, denn das macht es mir schwerer ihn zu vergessen. Ihre braunen Augen werden ganz groß und leer. »Kyran wirkt wirklich besorgt.«

»Bitte Mom«, flüstere ich, dieses Mal aber bestimmender. »Ich brauche Zeit für mich.« Ich werfe ihr einen wütenden Blick zu und hoffe, dass sie endlich versteht, dass es mir ernst ist. Meine Mutter steht manchmal auf einer langen Leitung.

Mom seufzt und setzt den Hörer an ihr Ohr, dabei heftet ihr Blick an mir. »Kyran? Ja, ihr geht es gut.« Sie lacht und nickt, auch wenn er sie nicht sehen kann. »Genau. Ich glaube, sie ist gerade dennoch nicht in der Verfassung um zu telefonieren... Danke, dir auch.« Sie kichert wie ein junges, verliebtes Mädchen und weicht meinem Blick aus. »Alles klar. Tschüss.«

Sie legt auf und bleibt lange Zeit einfach nur so stehen, bis sie nach vielen Sekunden endlich aufschaut und mich mustert. »Mia, was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?«

Ich lache auf und schüttele den Kopf. »Ist doch egal, Mom.« Wütend setze ich mich auf und starre sie an. »Müsstest du als meine Mutter nicht glücklich sein, dass ich nichts mehr mit diesem Jungen zu tun habe? Warum bist du so für Kyran?«

Mom lächelt. »Weil Kyran ein toller Junge ist. Ich kenne ihn zwar nicht so gut, aber ich vertraue meinem Gefühl und mein Gefühl sagt mir, dass dieser Junge ein großes Herz besitzt.« Sie sieht sich plötzlich im Raum um, so als hätte sie Angst, dass uns jemand belauscht und beugt sich dann zu mir vor. »Außerdem sieht er verdammt gut aus. Seine Augen sind wie zwei Diamanten und diese-«

»Mama!«, rufe ich und starre sie entsetzt an, doch Mom kichert nur und hält sich die Hand vor den Mund, als wäre nichts dabei, aber sie war schon immer so. »Oops.« Und dann dreht sie sich um und geht zu meiner Tür. Sie dreht sich kurz vorher noch einmal zu mir um und sieht mich scharf an. »Keine Ahnung, was das zwischen euch ist, Mia, aber ich bin froh darüber, denn seit du ihn kennst, wirkst du ganz anders. Viel glücklicher und lebensfroher. Du scheinst ihm viel zu bedeuten, sonst würde er wohl kaum so aufgelöst anrufen und sich Sorgen um dich machen.« Sie lächelt. »Und ich glaube, du solltest mehr dafür kämpfen. Manchmal muss man über seinen Schatten springen und ich denke, er ist die Mühe wert.«

KyranWhere stories live. Discover now