58 | rollende Hippiebraut in Aktion

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Henry hatte uns nicht zu den Toiletten geschickt, um zu pinkeln (obwohl wir das alle taten), sondern um uns umzuziehen.
Er war der Auffassung, dass man uns in unseren alten Kleidern leichter erkennen würde, weshalb er in seinem gigantischen Rucksack ein paar andere Sachen eingepackt hatte. Als wir während dem Durchwühlen jedoch Obst und eineinhalb Pizzen fanden, legten wir eine Pause ein.
Die Türe konnte man Gott sei Dank zu sperren, denn sonst hätte jeder, der hier reingeplatzt wäre, fünf ausgehungerte Jugendliche in Unterwäsche erblickt, die am Boden hockten und über eine Pizza herfielen.

In dem Kleiderhaufen gab es wenig, das auch nur halbwegs erträglich war. Das meiste sah so aus, als hätte ein blindes Kleinkind das genäht. Cassandra, den Mund voller Tomatensauce, hielt ein Kleid hoch und verzog angewidert den Mund. ,,Das ist menschenunwürdig.", fand sie.
Bald erkannten wir, dass es nicht viele akzeptable Stücke gab und schnell kam es zu einem Kampf. Ich trat Henry aus Versehen ins Gesicht, Seth biss Joel in die Hand und Cassandra brach mir beinahe die Rippen, bei dem Versuch eine Hose zu bekommen. Am Ende gehörte die Hose ihr und obwohl sie für männlichere Beine gedacht war, gehörte sie immer noch zu den schönsten Kleidungsstücken aus Henrys Sammlung.
Ich musste das Kleid tragen, das Cassandra als menschenunwürdig bezeichnet hatte. Es war mir zu groß und hatte eindeutig einer Hippie-Braut gehört. Mit Henrys Schere schnitt ich einen Großteil ab, sodass man fast meine Knie sah, doch als ich die Ärmel kürzen wollte, schimpfte mich Henry aus und nahm mir mein Werkzeug weg.

,,Ähm, Cass, können wir tauschen?", fragte Joel. Er trug kuschelige Socken und ein weißes Shirt, alles, was fehlte, war ein Unterteil. In seinem Fall ein Rock, den er gerade peinlich berührt hochhielt.
,,Nein, ich sehe scharf aus in der Hose.", fauchte Cassandra.
Joel blickte hilfesuchend Seth und Henry an. Beide trugen alte Turnhosen, der eine hatte eine lange, der andere eine kurze und sehr, sehr enge.
,,Vergiss es.", meinte Seth. Henry sah den Rock an, dann Joel, dann kicherte er.

,,Wieso muss ich den Rock tragen?", frotztelte Joel.

,,Willst du lieber dieses Kleid anziehen.", motzte ich zurück. Joe nuschelte etwas unverständlich, was ziemlich beleidigt klang. Ich konnte ihn verstehen. Schließlich waren wir beide hier die am schwer Verletztesten, hatten wir keine Sonderrechte?

Fünfzehn Minuten später traten wir, im Heldengang, aus dem Klo hinaus auf den Gang.

Cassandra, mit der Hose, in der sie ohne jeden Zweifel verdammt scharf aussah, kaputten Sandalen und einem Blazer mit Schulterpolstern aus den Achtzigern.

Joel in den kuscheligen Socken, seinem Shirt und dem karierten Rock.

Seth, mit der Jogginghose, den alten Nikes und einem antiken Träger-Top, das seine Nippel nicht verdecken konnte.

Henry mit dieser Hose, die seinen Hüftbereich so richtig zur Geltung brachte, den Flip Flops und einem My Little Pony Pullover, der ihm sichtlich zu klein war, denn er war bereits über seinen Bauchnabel gerutscht.

Ich, mit dem bunten Hippie-Kleid, einer Wolljacke und pinken Rollschuhen, von denen Henry unschuldig meinte, dass ich sie wegen meiner Wunde tragen musste. In Wirklichkeit war er auf die Flip Flops aus gewesen, um die wir uns gestritten haben. Dieser Mistkerl.

Zusätzlich trug jeder von uns eine weite Mütze, aber ich war natürlich wieder eine Ausnahme, Dank meiner bescheuerten Freunde. Ich durfte nämlich einen Sonnenhut tragen und meine Haare wurden von Seth zu zwei Zöpfchen geflochten, sodass ich insgesamt wie eine lesbische, farbenblinde Indianerin auf Urlaub in Mallorca aussah.

,,Henry. Verrate mir bitte wie uns das weniger auffällig aussehen lässt.", knurrte ich über Joels, Cassandras und Seths Gekicher hinweg. ,,Und ihr drei seht auch nicht besser aus.", fügte ich aufgebracht hinzu. Wie auf Kommando prusteten sie los.

Gangsterboy | TBSWhere stories live. Discover now