Teil84

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Die Fahrt schien sich endlos hinzuziehen, denn Jeremy war die rasanten Fahrten mit dem Motorrad gewöhnt. Die eigentlich gut motorisierte Limousine fuhr allerdings mit einem verdächtig bedächtigen Tempo, sodass Jeremy vermutete, dies geschehe auf Richards Anweisung. Inzwischen ging bereits die Straßenbeleuchtung in den Vororten an und der Tag, der ebenfalls endlos schien, neigte sich doch dem Ende. Sie hatten die Stadtgrenze Greater Londons noch nicht erreicht, da war Rufus an Jeremy gelehnt eingedöst und Jeremy wäre wohl auch eingeschlafen, doch Richard erzählte ihm von ein paar „Arrangements", wie er es nannte, die dafür gesorgt hatten, dass nichts von dem was geschehen war, in der Presse auftauchen würde. Jeremy hörte entgeistert zu. Die Idee, dass sich die Zeitungen wie die Geier auf ihn und Rufus stürzen könnten, war ihm noch gar nicht gekommen. Zum Glück hatte Richard das in seine fähigen Hände genommen. Offenbar war es auch hier die Erfahrung, die ihn so schnell hatte handeln lassen. Mit dieser Erkenntnis kam sich Jeremy plötzlich sehr naiv vor. Wie hatte er vergessen können, dass die Presse nur auf so einen Coup lauern würde? Entführung und Vergewaltigung. Schwules Beziehungsdrama. Ein Festessen für die skandalsüchtige Menge, die sich so in ihrer angeblichen Norm bestätigt sehen könnte. „Du solltest bald mit deinem Manager reden", hörte er Richard sagen, was ihn aus seinen Gedanken riss. „Ja", Jem hatte zwar nicht mitbekommen, worum es gerade genau ging, aber bestimmt sollte er mit Peter reden. Und mit June. Mit jedem, der eine ehrliche Auskunft verdient hatte. „Danke, dass du das alles hier so für uns machst", setzte er dann hinzu. 

Richard schaute über den Sitz nach hinten und blickte von Jeremy sorgenvoll auf Rufus in seinen Armen. „Ich sollte das nicht tun müssen. Das ist das Problem." 

Jeremy nickte und suchte nach irgendwelchen tröstenden Worten für den großen Bruder. Er sah den wiederholten Missbrauch seines kleinen Bruders ganz klar als ein Versagen seiner brüderlichen Aufsicht als Familienoberhaupt. „Hast du eine Vorstellung davon, wie wenige Brüder das überhaupt tun würden? So zu ihm halten, meine ich."

Richard zog abschätzend eine Augenbraue hoch. „Ist das nicht selbstverständlich?", gab er zurück und Jeremy konnte hören, dass dies eine ernstgemeinte Frage war. War seine eigene Familie da tatsächlich so engstirnig oder war man in England durchweg so verständnisvoll und tolerant? „Da wo ich herkomme, ist es jedenfalls nicht so", gestand er und sah, wie Richard die Augen ungläubig zusammenkniff.

„Du meinst die Staaten? Oder deine ...Familie?", hakte er dann nach.

„Meine Familie bestimmt, vielleicht auch die Staaten." Jeremy erschrak ein wenig über den bitteren Ton in seiner Stimme. Und natürlich blieb das Richard nicht verborgen. Er zog wieder eine Augenbraue hoch. 

„Du gehörst, so wie ich das sehe, zu Rufus und damit zu meiner Familie. Wir tun alles füreinander. Und jetzt ruh dich aus." Richard hatte, wie es schien, alles gesagt und drehte sich wieder nach vorn. Jeremy lächelte ein wenig. Es kam ihm jetzt auch vor, als hätte er Glück im Unglück gehabt, denn erfahrungsgemäß müsste er es in seiner jetzigen Situation mit jeder Art von Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu tun haben und nicht mit der selbstverständlichen Hilfe und dem Schutz einer Familie. Das fühlte sich trotz allem gut an und Jeremy beschloss, auch ein wenig zu schlafen. Er legte seinen Kopf an den von Rufus, der tief und fest an seiner Schulter schlief. Er ignorierte den Geruch von Jod in seinem Haar und horchte auf seinen Atem. Bald darauf schlief er tatsächlich ein. 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now