Teil19

982 102 12
                                    


Zwei Minuten vor zwei setzte Rufus Jeremy vor dessen Hotel ab. Um sich einen Abschiedskuss zu geben, mussten sie die Helme absetzten. „Die Vorstellung beginnt um neunzehn Uhr dreißig. Sag' an der Stage Door deinen Namen."

„Ich kann's kaum erwarten."

Rufus setzte den Helm auf und fuhr los. Jeremy wusste, dass er nicht nur die Vorstellung gemeint hatte und ergänzte im Geiste und ich erst. Dann ging er zügig zu seinem Zimmer, das ihm jetzt seltsam fremd und leer vorkam. Er suchte sein Zeug zusammen und wollte gerade den Anrufbeantworter abhören, als es an der Tür klopfte. Das war June.

„Jeremy, wenn du mich nicht sofort hereinlässt, dann sterbe ich hier auf der Stelle vor Neugier!" Sie klang wirklich aufgeregt und klopfte nochmal.

„Komm rein, aber wir haben nicht viel Zeit." Er öffnete.

„Das kannst du wohl sagen", sagte sie in einem aufgesetzt vorwurfsvollen Ton, „aber ich brauche dringend die wichtigsten Fakten. Ich habe den heißen Typen gesehen. Das Motorrad war ja nicht zu überhören. Wieso antwortest du nicht auf meine Nachrichten?"

Jeremy war jetzt halb amüsiert, halb verlegen. Das war nicht nett von ihm, sie so zu ignorieren, aber er war ja auch wirklich mit wesentlichen Dingen beschäftigt gewesen.

„Okay, Juny, tut mir leid, aber ich bin völlig hin und weg und ..."

„Oh Gott, ihr habt es ständig getan, richtig?" Sie übertrieb mal wieder.

„Nein, nicht ständig. Also, naja, so oft es ging." Jeremy war jetzt wirklich verlegen.

„Hey, das ist...toll! Und wie ist er, ich meine nicht im Bett," jetzt war sie verlegen, „also als Mensch, was macht er?"

„Oh, er ist Schauspieler. Also professionell und richtig gut, so mit Shakespeare-Rollen. Er ist klug, sehr direkt, hat Humor, steht total auf mich und kann ein paar tolle Dinge mit, naja, du weißt schon...den Händen und so..."

Sie grinste, als ob sie wüsste. „Und er ist aus London?"

„Ja, nein, nicht direkt. Er hat hier 'ne Wohnung, aber seine Familie ist vom Land."

„Du hast gleich seine Familie kennengelernt?" Jetzt war sie wirklich erstaunt.

„Ja, aber ich glaube, er wollte hauptsächlich herausfinden, ob mich das einschüchtert."

„Warum sollte dich das einschüchtern?"

„Na, die sind nicht irgendwas, die sind stinkreich und von Adel."

„Donnerwetter. Ich dachte du übertreibst mit deinem Prinzen."

„Eher nein. Er kommt nachher. Du musst ihn kennenlernen."

„Wow, da freu ich mich." Sie würde es gar nicht erwarten können. Dann fiel ihr etwas Dringendes wieder ein. „Du, als du nicht da warst ist ein Typ von der Opera Now hier gewesen. Er sagte, wir wären beide nominiert für den International Opera Prize. Ist das nicht toll? Die lieben den Grimes und wir haben echte Chancen auf den Preis."

Jeremy war sofort begeistert. „Ist das dein Ernst? Das ist der Preis überhaupt! Wenn wir das gewinnen, dann wird man sich überall nach uns reißen!"

„Sie reißen sich jetzt schon um dich. Du bist die Sensation. Ein intelligenter Tenor, der schwierige Rollen scheinbar mühelos meistert. Du hast deine Kritiken nicht gelesen. Schäm dich!" Sie drohte mit dem Zeigefinger, dann lachte sie laut los. „Und ich habe gar nichts anzuziehen bei so einer Preisverleihung!"

„Das kannst du noch ändern", fand er.

June deutete plötzlich auf die Uhr. Um drei mussten sie zum Einsingen und zur Maske. „Wir müssen los."

„Ich komme, ich komme."

Kurz darauf waren beide im Eiltempo auf dem Weg zur Oper. June hätte gern noch mehr gefragt und auch erzählt, aber das musste noch warten. Jetzt ging die Vorstellung vor. Jeremy stellte sich vor, wie Rufus reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Jeremy vielleicht so einen wichtigen Preis erhalten würde. Er müsste natürlich zur Preisverleihung mitkommen und er würde so irre gut aussehen und Jeremy konnte es nicht erwarten mit ihm anzugeben. June meinte, er solle sich erstmal wieder beruhigen und brachte ihn direkt in die Garderobe. Dort begann Jeremy mit Gesangs- und vor allem Konzentrationsübungen. Er würde es allen an diesem Abend zeigen. Er war richtig, richtig gut. Preisverdächtig gut.

Das Orchester begann damit sich einzuspielen, als Rufus gegen viertel nach sieben den Saal betrat. Er war als Kind ein paarmal in der Oper gewesen, als seine Großmutter noch lebte. Sie hatte ihn mitgenommen in die Zauberflöte und Hänsel und Gretel. Natürlich gehörten die Dukes of Sommerford St. Aubyn zu den Mäzenen des Hauses und darum waren Richard und Miranda auch gelegentlich hier, aber Rufus war nie dabei gewesen. Seit er professionell schauspielerte, war er ja auch meist abends im Theater. Er schaute auf den riesigen roten Samtvorhang, das königliche Wappen über der Bühne und die Menschen in großer Abendrobe in den Logen. Keiner seiner letzten Freunde wäre wohl freiwillig mit hierhergekommen. Er verdrängte den Gedanken schnell wieder und setzte sich mit einem höflichen „Guten Abend" neben eine ältere Dame mit Diadem. Sie freute sich ihn zu sehen und meinte, es habe immer seine Vorzüge, wenn sie die Karte ihres Gatten aus Krankheitsgründen zurückgebe. Rufus lächelte geschmeichelt und sagte, der Vorzug sei ganz auf seiner Seite. Das stimmte auch, denn sie erinnerte ihn an seine Großmutter und die Plätze waren in einer Loge in Nähe der Bühne. Von dort würde er Jeremy hervorragend sehen und hören können. Dann ging das Licht auch schon aus und die erste Szene begann. Ohne Ouvertüre war man mitten in einer Gerichtsverhandlung. Rufus folgte gebannt.... 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now