Teil39

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Jeremy und June waren auf dem Weg zu einem der Balkone, wo sie sich mit ihren Managern treffen sollten, als er den Text von Rufus bekam. Er kramte nach dem Handy, während sie weiter schwärmte, wie gelungen der Abend bisher verlaufen sei. Normalerweise war Jeremy nicht der Typ, der in Begleitung ständig sein Handy kontrollierte, aber er hatte plötzlich ein ganz ungutes Gefühl. „Entschuldige bitte", unterbrach er sie, er hatte sowieso nicht zugehört. Sie schaute etwas genervt. „Was ist denn, kommt er nicht klar, ohne dich?"

Jeremy las den Text: Komm heim. Bin schon los. Hab's vor Langeweile nicht ausgehalten. Da stimmte etwas nicht. Komm heim, das klang doch irgendwie flehend. Langeweile? Seit wann langweilte sich Rufus bei klassischer Musik? „Tut mir leid, ich muss los", sagte er und versuchte, nicht allzu sehr beunruhigt zu klingen.

„Läufst du immer gleich los, wenn er ruft? Der Abend ist noch nicht vorbei. Was wird aus der Tanzversteigerung?" June war wirklich genervt. Was lag ihr bloß an so einer Tanzversteigerung. Da würden Leute Geld für einen Tanz mit ihr oder mit ihm für einen wohltätigen Zweck bezahlen. Okay, sicher war diese ganze Charade auch für sie nicht einfach, obwohl sie das bisher alles gut im Griff zu haben schien. Jeremy gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. „Tut mir echt leid, aber du machst das bestimmt toll auch ohne mich. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Ich muss los." Er drückte ihr noch die Hände, dann war er nicht mehr zu halten. Er schob sich durch die Leute an den Tischen und den Bars bis zur Garderobe. Dort war der Portier, den er schon kannte und reichte ihm sogleich seinen Mantel. „Sie gehen frühzeitig, Mr. Harrison?"

„Ja. Haben Sie Rufus gesehen?"

„Nein Sir, Mr. Sommerford war nicht hier."

„Danke, bis Montag."

„Bis Montag. Passen Sie auf sich auf, Sir."

Die Taxifahrt nach Hampstead kam Jeremy länger vor als je zuvor. Er hatte einen Text losgeschickt. Komme direkt nach. Es kam keine Antwort. Konnte es sein, dass Rufus keinen Empfang hatte oder hatte er das Handy nicht bei sich? Als er endlich in der Constantine Road ankam, bezahlte er den Taxifahrer mit einem Hundert Pfund Schein und eilte zur Tür. Drinnen war kein Licht. Aber Rufus musste da sein, denn sein Frack lag direkt am Eingang und Jeremy stolperte direkt über einen seiner Schuhe. Er machte erstmal Licht.

„Rufus? Wo bist du? Ich bin's, Jem." Er horchte, aber es kam keine Antwort.

„RU?!" Wieder nichts, aber ein Geräusch irgendwo oben. Da war etwas heruntergefallen, wahrscheinlich im Bad. Jeremy hielt die Luft an und horchte. Ja, im Bad hörte man die Dusche laufen. Jeremy war jetzt hochgradig alarmiert. Warum antwortete Rufus nicht, wenn er im Bad war? Er ging die Treppe langsam hinauf. Dort lag ein zweiter Schuh, das Hemd, eine ganze Spur von Einzelteilen bis hinauf. Vor der Tür hielt er kurz an. Auch im Bad war kein Licht. „Rufus?", fragte er vorsichtig und klopfte an die Tür. Sie war nur angelehnt und man hörte nur Wasserrauschen. „Rufus? Ich bin's. Ich komme rein." Jeremy machte sich bereit, das Schlimmste zu sehen, auch wenn er nicht verstand, was passiert sein könnte. Drogen? Blut? Er holte tief Luft und ging hinein. Im Dunkel des Raums war nicht viel auszumachen, aber die kauernde Gestalt von Rufus, unten in der Dusche. Das Wasser lief über ihn und da merkte Jeremy, was ganz und gar nicht stimmte. Der Raum war zu kalt für eine laufende Dusche. Rufus hockte unter kaltem Wasser, wer weiß, wie lange schon. „Rufus, was machst du da?", fragte er, im ersten Moment völlig hilflos. Keine Antwort. Jeremy zögerte jetzt nicht, schmiss nur schnell seinen Mantel zur Seite und stieg in die Dusche. Schon beim Geräusch der Kabinentür, stieß Rufus ein halb ersticktes Wimmern aus, das Jeremy sofort Einhalt gebot. Was war das? Was tun? Er ignorierte das Wimmern und drehte den Wasserhahn zu. Rufus versuchte, sich noch mehr in die Ecke zu kauern. Erkannte er ihn nicht? War er überhaupt bei klarem Verstand? Jeremy hockte sich neben ihn und begann beruhigend auf ihn einzureden. „Ru, hör doch, ich bin's. Jem. Dir kann nichts passieren, ich bin da, Jem..." Vorsichtig legte er ihm eine Hand auf die Schulter. Der junge Mann war eiskalt und zitterte. Jeremy angelte nach dem Duschkopf und stellte warmes Wasser an. Erst als das Wasser warm war, begann er, Rufus damit abzubrausen. Zunächst schien es hoffnungslos. Er kauerte in der Ecke wie ein verängstigtes Tier und hielt den Kopf unter den Armen bedeckt, doch Jeremy redete weiter auf ihn ein. Endlich hörte das Wimmern auf und Jeremy ließ sich jetzt ganz auf dem Boden nieder und zog Rufus in seinen Schoß. Rufus fasste mit seinen Händen nach Jeremys Kleidern und krallte sich hinein. Also hatte er ihn jetzt erkannt. Noch immer atmete er schwer. Jeremy legte einen Arm beschützend über ihn, mit dem anderen hielt er das warme Wasser. „Ru, geht's dir besser?", fragte er dann ganz leise. Ihm fiel ein, wann er das letzte Mal einen anderen Mann so gehalten hatte. Aber das zählte jetzt nicht. „Ru, geht's besser?"

Rufus hob ein wenig den Kopf. „Jj...ja", sagte er, noch immer zittrig.

„Wird dir warm?"

„Jj..ja."

„Gut. Du hast mich echt zu Tode erschreckt. Aber jetzt wird alles gut." Jeremy streichelte ihn ein wenig.

„I-...ich da-...dachte, Ol-...Oliver sei...". Weiter kam er nicht. Der Name schien ihn aufzuregen.

„Psst, psst, ist alles gut. Ich bin hier."

Jeremy hielt Rufus noch eine Weile, bis er sicher war, dass ihm warm war und er ruhig atmete. „Komm, wir stehen auf und ich bringe dich ins Bett", schlug er dann vor. Rufus sagte nichts, setzte sich aber auf, sodass Jeremy erst aufstehen und ihm dann aufhelfen konnte. Erst kümmerte er sich darum, dass Rufus in einen warmen Bademantel kam. Er zog ihn an und setzte ihn auf den Rand der Badewanne. Er konnte ihn nicht in nassen Kleidern tragen. Also zog er sein nasses Zeug aus, nahm sich auch einen Bademantel und dann trug er Rufus ins Bett. Er legte sich zu ihm und zog ihn sicher an sich. „Was war das?", fragte er leise. 

„Ich... weiß nicht. Hinterher... kann ich mich nicht erinnern."

Er hatte hinterher gesagt. Also war das nicht das erste Mal. Jeremy gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Es tut mir leid", fuhr Rufus leise fort, „der Abend war wichtig für dich."

„Papperlapapp. Du bist wichtig für mich. Versuch zu schlafen. Ich bin hier."

Rufus drückte sich noch fester an ihn und bald verriet sein Atem, dass er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Jeremy lag allerdings noch länger wach, denn die ganze Sache ging ihm jetzt im Kopf herum. Wer zum Teufel war dieser Oliver und warum versetzte er Rufus in so einen Zustand? War das Schock? Was hatte das getriggert? Was könnte er fragen? Welche Antworten würde er bekommen? Sie wollten keine Geheimnisse haben, das hatten sie sich versprochen. Vielleicht wäre es das Beste, zu warten, bis Rufus von sich aus erzählte, denn auf keinen Fall würde Jeremy riskieren, dass er einen neuen Anfall bekäme. Könnte er etwas von Richard erfahren? War das okay, den Bruder zu fragen, ohne dass Rufus es wusste? Bestimmt nicht. Endlich war Jeremy dann selbst so erschöpft, dass er nicht mehr anders konnte und auch einschlief. 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now