Teil78

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Die Ärztin war nahezu fertig mit der Versorgung der Bisswunde, als man im Gang Stimmen hörte. Das musste die Polizei sein und wenn nicht alles täuschte, war ein aufgebrachter Richard bei ihnen. „Ich werde das nicht zulassen, erst will ich ihn sehen...", herrschte der jemanden an. Die Ärztin schaute Rufus fragend an. „Mein Bruder", sagte er nur leise. Das reichte für sie zur Erklärung. „Ich regle das", versprach sie und ging zur Tür. Sie öffnete nur einen Spalt breit und verfügte dann mit knappen Worten, dass die Polizei warten müsse. Richard durfte eintreten. Rufus drehte den Kopf zur Seite. Er musste sich vorstellen, wie er wohl aussah, auch wenn das jetzt sicher schon deutlich besser war als noch vor einer Stunde. Er konnte Richard gerade nicht ansehen und noch weniger wollte er angesehen werden. Richard trat langsam heran und unterdrückte den ersten brüderlichen Impuls, Rufus seine Hand auf die Schulter zu legen. Das sah aus, als wäre es schmerzhaft. „Beim Zeus, ich sorge dafür, dass man den Typen vierteilt", brachte er schließlich heraus. Rufus fand das beinahe komisch. Richard wäre es glatt zuzutrauen, dass er jemanden für mittelalterliche Strafen anheuerte. Irgendwie schien das beinahe standesgemäß. „Wenn ihn endlich jemand festnimmt, ist mir alles recht", fand Rufus und wagte jetzt, den Blick zu heben. Sein Bruder stand dicht bei ihm und schaute auf eine Art, die Rufus beinahe als tröstend empfand, wenn er sich nicht gleichzeitig so geschämt hätte. Wie um alles in der Welt war er wieder in so eine Situation geraten? Warum konnte er nicht besser auf sich aufpassen? Aber Richard sagte nichts dergleichen. „Du sagst nichts?", fragte Rufus dann.

„Was kann ich sagen? Ich habe als dein großer Bruder versagt. Schon zum zweiten Mal. Du hast direkt neben mir gesessen und dann warst du plötzlich verschwunden. Ich... alle Macht unserer Familie und alles Geld können dich nicht vor so einem brutalen Perversen beschützen. Es ist meine Schuld."

„Du redest Unsinn. Du hast alles getan, was du konntest." Rufus sprach leise und heiser, drehte sich nun aber Richard zu. Das Schlimmste war sowieso nicht zu übersehen und sein Bruder hatte wirklich alles nur Erdenkliche getan, um ihn und Jem zu schützen. Das hatte nur nicht gereicht...

„Wie kannst du so gefasst sein? Es würde niemanden wundern, am wenigsten mich, wenn du völlig außer dir wärst", stellte Richard fest.

„Ich bin nicht gefasst. Ich bin nur zu ... ausgelaugt für irgendwas anderes."

Richard schien zu verstehen. „Ich rede mit der Polizei. Die sollen morgen wiederkommen. Er muss doch sicher hierbleiben?", wollte er von Dr. Burns wissen.

Die Ärztin wollte gerade antworten, doch Rufus kam ihr zuvor.

„Ich gehe nirgendwohin, ohne Jeremy. Und ich will zu ihm, sobald das hier... fertig ist."

Richard und die Ärztin nickten. „Ich werde das sofort veranlassen", sagte Richard. „Und solange Oliver nicht stückweise in der Themse schwimmt, bleibe ich auch. Nur eins noch: Wo soll die Polizei suchen? Wo war es?"

„Kensal Green, die alte Wohnung..."

„... in der Harrow Road, wie damals?"

„Ja."

„Beim Zeus!" Richard war geschockt, aber nicht überrascht. Wenn jemand wie Oliver ein solch krankes Interesse an Rache oder Wiedergutmachung oder was auch immer er sich in seinem kranken Hirn ausmalte hatte, dann war es nicht abwegig, an den Ort früherer Taten zurückzukehren. Und es erklärte, wie Rufus dorthin gelangt war. Wie konnte er nur so etwas Aberwitziges tun? Richard fragte nicht nach. Irgendwann würde sein Bruder sich ihm anvertrauen. Irgendwann. „Kann ich irgendwas für dich tun?", fragte er, in der Hoffnung, dass es etwas gäbe, damit er sich etwas nützlicher fühlen könnte.

„Ich will es Jeremy selbst sagen."

Richard war nicht überrascht. „So soll es sein. Ich gehe jetzt und kümmere mich darum."

Damit ging er und Rufus sagte nichts mehr. Die Ärztin merkte, wie er sich verkrampfte. „Sobald wir hier fertig sind, bringen wir Sie zu..."

„Jeremy heißt er."

„Eben zu dem. Und ich gebe Ihnen etwas, damit Sie zur Ruhe kommen."

Rufus schüttelte den Kopf. „Besser nicht. Ich... war vor etwa zehn Jahren schwer Kokain- abhängig."

„Verstehe." Sie machte sich jetzt daran, ihm Blut abzunehmen. Die Nadel unter seiner Haut, ließ Rufus erschauern. Wie viele Geister aus seiner Vergangenheit würden ihn wohl noch einholen? Er versuchte, sich so gut es ging zusammenzureißen.

„Ist bald geschafft", versprach Dr. Burns.

„Behandeln Sie mich nicht wie ein Kleinkind, verflucht!", fuhr er sie an und verstand den Grund dafür selbst nicht so recht.

„Schon gut."

Rufus musste sich beruhigen. Sie versuchte, zu helfen und nett zu sein. Das machte das alles nur trotzdem nicht weniger unerträglich. Sie redeten nichts mehr. Nur, als sie fertig war, ließ sie einen Pfleger kommen, der Rufus im Rollstuhl zu Jeremy bringen sollte. 

„Alles Gute", sagte sie dann.

„Danke."

No lies, keine LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt