Teil83

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Als Jeremy, noch immer etwas schwankend, aus dem Bad zurückkam, war Richard gekommen. Rufus schlief noch immer und Richard hatte sich auf den Rand des Bettes gesetzt und sah aus, als wollte er seinen Bruder streicheln. Als Jeremy herantrat und Richard ihn bemerkte, war der Moment vorbei und der ältere Sommerford ließ seine Hand in den Schoß sinken. Jeremy fiel zum ersten Mal auf, wie ähnlich sich die Brüder sahen. Richards Haar war anders; kürzer, heller und blond, nicht wie das von Rufus, mit wilden Locken und dem Glanz der Abendsonne. Aber die hellen Augen und die hohen Wangenknochen waren nahezu identisch. Der eigentliche Unterschied lag im Ausdruck der beiden. Richard war nur wenige Jahre älter als sein Bruder, doch wirkte er weit ernsthafter und verschlossener. Sein Gesicht verriet keine Emotion, doch er biss die Lippen zusammen, die sonst so voll wie die von Rufus waren. Warum war Richard so gequält? Wegen der Laborergebnisse? Richard sah auf und schien Jeremys Gedanken zu lesen, denn plötzlich räusperte er sich und sprach. „Negativ", presste er hervor, „das nennt man wohl ... Glück im Unglück." Jeremy fürchtete, ihm würden die Knie versagen, aber er fing sich. Hatte er richtig gehört?

„Negativ? Du meinst, er ist sauber?", fragte er nach.

Richard nickte zur Bestätigung. „Ja, soweit man das so sagen kann. Sie haben nichts gefunden und ihn dermaßen mit Chemie vollgepumpt, dass er sich auch nicht mehr infizieren kann."

Soweit man das so sagen kann... Jeremy verstand die Bedeutung der Worte sofort. Auch wenn sein Vergewaltiger keine ansteckenden STDs übertragen hatte, fühlte sich Rufus ganz sicher elend, missbraucht und alles andere als sauber. Jeremy fluchte innerlich, weil er dieses gebräuchliche Wort in dem Zusammenhang benutzt hatte, aber das war jetzt wirklich das Allerwichtigste: Rufus hatte sich nicht angesteckt oder Oliver war nicht mit irgendwas, schlimmstenfalls HIV, infiziert. Das heißt, er würde leben, nicht sterben, nicht elendig krepieren, so wie David. Richard schien wieder Gedanken zu lesen. „Ich weiß, was du meinst", sagte er leise, „Wie geht es dir?"

Jeremy wusste nicht so recht.

„Wenn du dich übergeben hast, dann hast du eine Gehirnerschütterung", stellte Richard fest.

„Das war nicht deswegen."

„Oh." Richard nickte wissend. Dann fiel Jeremy ein, weswegen Richard seine Gedanken kannte. Er machte das alles hier nicht zum ersten Mal durch und er war Rufus' Bruder. 

„Was machen wir jetzt?", fragte er Jeremy. 

Der musste nicht überlegen: „Wir bringen ihn hier weg. Nach Sommerford. Und wir finden diesen Bastard, der das getan hat." 

Richard nickte. „Eine Limousine ist schon unterwegs. Hopkins richtet bereits alles her. Ich habe eine Belohnung auf die Ergreifung von diesem Psychopaten ausgesetzt. Wir kriegen ihn. Diesmal." Jeremy sagte nichts, denn es war alles gesagt. 

„Wecke du ihn vorsichtig auf. Ich besorge euch einen Rollstuhl." Richard war schon fast zur Tür, da drehte er sich nochmal um. „Jeremy, wir sagen den Kindern nicht was passiert ist. Rufus und du, ihr hattet einen Unfall."

Jeremy blinzelte etwas überrascht. Aber ja. Sicher. Er nickte. „Von mir erfahren sie kein Wort."

„Gut." Mit diesem Wort ging Richard zur Tür hinaus und Jeremy schaute kurz zur Uhr. Rufus hatte keine Stunde geschlafen, aber er wollte nachhause, also musste er aufstehen. Jeremy strich ihm eine Haarsträhne zur Seite und flüsterte in sein Ohr. „Ru, Liebster, wach auf..." Rufus musste so erschöpft sein, dass er wirklich tief schlief, denn er reagierte nicht. Also flüsterte Jem noch einmal und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, was ihn abrupt aufschrecken ließ. „Alles gut, du bist bei mir", versuchte Jeremy sogleich, ihn zu beruhigen. Rufus war jetzt hellwach und schaute Jeremy erst entsetzt an, dann begriff er und sein Blick wurde sanfter. 

„Ich weiß", sagte er nur. 

„Richard war hier. Wir bringen dich jetzt nachhause. Und er sagt, dass deine Laborergebnisse in Ordnung sind."

„Sind sie das?"

„Ja, du hast...", Jeremy zögerte, suchte nach einem anderen Ausdruck als Glück gehabt, „...einen Schutzengel gehabt."

Rufus schaute Jeremy mit einer Mischung aus Erleichterung und Bitterkeit an. „Nächstes Mal, soll er früher kommen," sagte er dann leise.

„Es gibt kein nächstes Mal", versprach Jeremy mit Nachdruck und nahm sich vor, selbst dieser Schutzengel zu sein, den er soeben erfunden hatte. In dem Augenblick traten Richard und eine Krankenschwester zur Tür herein und brachten jeweils einen Rollstuhl mit sich. Das war in englischen Krankenhäusern so üblich.

"Komm, es geht nachhause, kleiner Bruder", sagte Richard und deutete Rufus an, sich hinein zu setzen.

„Was soll das, ich kann laufen, ich bin nicht behindert?!", protestierte der.

„Du solltest vorsichtig sein, du bist schwer verletzt", begann Richard, doch Rufus wollte davon nichts wissen. 

Er schüttelte vehement den Kopf: „Auf gar keinen Fall schiebt mich irgendwer bis zur Tür. Ich gehe." Er blickte zu Jeremy, so als würde er auf irgendetwas warten.

„Okay, okay", kam ihm Jeremy zu Hilfe. „Wir gehen beide." Mit diesen Worten hakte er sich bei Rufus ein und schaute ihn an. „Bist du soweit?"

„Ja. Nichts wie weg hier."

„Dann los." Damit war das entschieden und die beiden verließen das Zimmer, wo Richard jetzt die Schwester mit den Rollstühlen stehen ließ, um sich ihnen anzuschließen. Der Weg durch die Gänge des Hospitals war nicht gerade kurz und Jeremy hatte mindestens einmal das Gefühl, er würde ins Schwanken geraten oder es war Rufus, der schwankte und er merkte den Unterschied nicht, aber schließlich hatten sie es zur Pforte hinaus geschafft, wo, nach einem eiligen Telefonat von Richard, die Limousine jetzt genau davor stand. Der Chauffeur sprang heraus und hielt eine Tür auf, sodass erst Ru und dann Jem vorsichtig hinten einsteigen konnten. Richard ging nach vorne. „Bringen Sie uns so schnell wie möglich nach Sommerford", wies er den Mann an. 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now