Teil60

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Das Ganze zog sich scheinbar endlos hin. Die Polizei nahm alles zu Protokoll, machte Fotos, trank Tee und durchsuchte den Garten auf Hinweise. Viel ins Protokoll zu geben, war da nicht. Plötzlich flog ein Pflasterstein ins Zimmer. Ob der Täter wusste, dass sich dort das Schlafzimmer befand, ob sie glaubten, dass er versucht hätte einen von ihnen zu verletzten? Da war sich Rufus sicher. Er gab an, schon zuvor das Gefühl gehabt zu haben, sie würden vom Garten aus beobachtet. Der Stein war in jedem Fall groß genug für ernsthafte Verletzungen und sie hatten Glück, dass das Bett nicht direkt am Fenster stand. Auch die Scherben hätten mehr anrichten können. Es war anzunehmen, dass der Täter über die Gartenmauer geflohen sei und sie möglicherweise von dort aus beobachtet hatte. Nur von dort aus hätte man überhaupt Einsicht in die Zimmer im zweiten Stock. Rufus rollte genervt mit den Augen. Natürlich stellte er sein Bett nicht dahin, wo man ihn und seinen Partner sehen könnte. Normalerweise war niemand im Garten und normalerweise wäre nur jemand hinter und nicht auf der Mauer. Ob es keinen Zweifel daran gebe, dass es Oliver Jarvis-Milford gewesen sei oder ob es Hinweise auf eine weniger persönliche Tat mit allgemein- homophobem Hintergrund gab. Jeremy zischte genervt durch die Zähne. Nein, außer von diesem Oliver sei ihm hier in London oder gar Hampstead noch keine Feindseligkeit begegnet. Dann kam auch noch ein Sanitäter dazu. Irgendjemand hatte den angefordert, weil Jeremys Nase blutete. Er bekam einen Kühlpack, dann sah der Sani nach Rufus, der tatsächlich noch gar nicht bemerkt hatte, dass er ein paar kleinere Schürf- und Schnittwunden an den Füßen hatte. Er war barfuß in den Garten gelaufen. Ein Beruhigungsmittel wollte er nicht, aber eine Zigarette, wenn jemand eine hätte. Der Sanitäter grinste schief, holte dann aber ein Päckchen aus seiner Jacke. Schließlich fanden die Polizisten Spuren an der Mauer, wo Oliver Moos und Efeu losgetreten hatte und ein paar Fußspuren, von denen sie einen Gipsabdruck machten. Rufus beobachtete alles, als er mit der Zigarette draußen stand, während Jeremy noch weitere Angaben machte. Er glaubte nicht wirklich an die beruhigende Wirkung des Nikotins, aber ruhig und gleichmäßig zu atmen tat gut. Er schaute dem Rauch hinterher in den Nachthimmel. Seine Hände waren ruhig, er war wieder ruhig. Er wünschte, er wäre Oliver nie begegnet. Okay, das wünschte er sowieso, wenn er auch eine Ewigkeit nicht daran hatte denken müssen. Er wünschte vielmehr, er wäre ihm nicht wiederbegegnet. Das traf es eher. Ohne dieses Wiedersehen an der Bar, täte es nicht wieder so weh. Und auch das traf es noch nicht ganz. Es ging nicht um irgendwas, was Oliver vor einer halben Ewigkeit getan hatte, es ging um das, was er jetzt tat. Warum ließ er ihn nicht in Ruhe? Warum ließ er sie beide nicht in Ruhe? Wäre das alles, die Schlägerei, die Reifen, der Stein, nicht passiert, wenn Rufus nachgegeben hätte, wenn er ihm einfach zu Willen gewesen wäre? Wäre das auch jetzt noch eine Lösung? Ein Treffen, irgendwo, in einer halben Stunde wäre alles vorbei, Jeremy müsste es gar nicht wissen, aber er wäre sicher... Ein beißender Schmerz an Zeige- und Ringfinger ließ ihn in seinen Gedanken zusammenzucken. Die Zigarette war bis auf die Finger heruntergebrannt. „Zeus!" Er hatte die Kippe fallen lassen. Dann schaute er hinein ins Wohnzimmer, wo Jeremy inzwischen mit den Polizisten fertig war und versuchte, sie zum Aufbruch zu bewegen. Sie sollten tagsüber wiederkommen. Er wäre dann da. Einer der Männer nickte und kam dann hinaus zu Rufus, um von dort aus seine Männer zurück zu ordern. „Wir sind dann hier für's Erste fertig, Mr. Sommerford", sagte er zu Rufus. Der nickte und ging mit ihm und den anderen hinein. „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind", gab Rufus ihnen schließlich noch mit auf den Weg. Jeremy gab jedem die Hand und schloss endlich um zwanzig vor drei die Tür. „Und danke, für's endlich wieder gehen", murmelte er und lächelte müde. Rufus sagte gar nichts, er schaute Jeremy nur an. „Na los, schlafen wir halt hier unten, oben liegen noch die Scherben", schlug Jem vor. Rufus nickte und holte ein paar Decken. Dann machten sie sich die Couch zum Schlafen fertig und rückten darauf eng zusammen. Jeremy hielt Rufus im Arm, der noch immer nichts gesagt hatte. Sein Kopf ruhte auf Jeremys Brust und dessen Atem ging ruhig und beruhigend durch sein Haar. Das roch etwas nach Zigarettenqualm, aber das machte nichts, denn es erinnerte Jeremy an seinen ersten Eindruck von Ru an diesem allerersten Abend. Zigarette und Himbeer. Er hob sein Kinn an und küsste ihn. Rufus küsste zurück und murmelte ein „Ich liebe dich", das so tief und müde klang, dass Jeremy es fast nicht verstand. „Ich weiß, woran du denkst", flüsterte Jeremy dann, „und es kommt auf überhaupt gar keinen Fall in Frage, hörst du?" Er küsste Rufus nochmal und nochmal. Da mischte sich der salzige Geschmack von Tränen hinzu. Also hatte Ru gehört und verstanden. Jeremy hielt ihn noch etwas fester und lauschte auf seinen Atem, bis er irgendwann sicher war, dass der junge Mann schlief. Erst dann erlaubte sich Jeremy selbst in einen schweren, traumlosen Schlaf zu fallen. 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now