Teil58

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Der Pförtner am Royal Opera House wunderte sich nicht wenig, als Rufus zu Fuß ankam, ohne den typischen Motorenlärm, der ihn sonst ankündigte. „Guten Abend, Mr. Sommerford. Was ist denn heute wieder? Wir machen uns alle Sorgen hier", begrüßte er ihn mit einem sorgenvollen Runzeln auf der Stirn. Rufus lächelte müde. „Alles in Ordnung. Nur kaputte Reifen." Das war nicht gerade wenig untertrieben, aber er wollte den älteren Herren nicht noch mehr beunruhigen.

„Verstehe, Sir, das Motorrad hatte das gleiche Pech wie Mr. Harrison?"

Das traf die Sache trotz allem irgendwie auf den Punkt. Rufus nickte. „Ja, denke schon."

Jetzt nickte der ältere Herr. „Hoffentlich ist das alles bald vorbei. Eine angebrochene Nase ist sehr schmerzhaft und man sollte den Mann dafür einsperren. Bestimmt finden sie ihn bald."

Rufus lächelte wieder. „Danke für Ihr Verständnis", fügte er hinzu, dann ging er durch die zahlreichen Gänge des Hauses direkt zu einem der Seitenflügel hinter der Bühne. Von dort konnte er den Rest der Vorstellung gut verfolgen und auch ein wenig sehen. Er war froh, zu sehen und zu hören, dass Jeremy trotz allem in toller Form war. Er sang und spielte seine Mad Scene mit einer Hingabe, die seines gleichen erstmal würde finden müssen und Rufus bekam regelrecht eine Gänsehaut davon. Es waren Momente wie dieser, die ihm klar machten, warum er sich so sehr in den Amerikaner verliebt hatte. Das war kein Zufall gewesen, in dieser Bar, an jenem Abend, sondern das Schicksal, dass es ausnahmsweise gut mit ihm meinte. Alles was sich Rufus jetzt wünschte war, dass Jeremy nie wieder eine Schikane oder einen Schmerz ertragen müsste, weil sie zusammengehörten. „Nie wieder", flüsterte er leise bei sich, ohne es wirklich zu bemerken, aber so, als wolle er eine Art Schutzzauber über ihn legen. Jeremy drehte sich in dem Moment um, so als habe er etwas bemerkt und entdeckte Rufus. Er zwinkerte ihm kurz zu, dann machte er weiter. Jetzt kam die große Dorfszene am Schluss.

Als alles vorbei war, schien der Applaus nicht enden zu wollen und Jeremy musste immer wieder mit den anderen Sängern oder allein vor den Vorhang. Schließlich ging der Eiserne Vorhang herunter und das Licht an. Jeremy kam direkt dorthin, wo Rufus stand und noch bevor er etwas sagen konnte, küsste er ihn. Es war ein einfacher Begrüßungskuss, aber umso schöner, weil er spontan und völlig sorglos kam. „Das ist nicht normal, wie sehr ich dich vermisse, wenn wir nur einen halben Tag getrennt sind", murmelte er. Rufus tat es gut, das zu hören, nach all dem, was an dem Tag gewesen war. „Wir haben die ganze Nacht", flüsterte er Jem ins Ohr, der trotz des Bühnen Make-Ups etwas rot zu werden schien. „Ich nehm' dich beim Wort", sagte er. Endlich wollten sie sich in Jeremys Garderobe aufmachen, als noch der Dirigent des Grimes die beiden entdeckte und sich anschickte, zu ihnen zu kommen. „Warte mal, da kommt der Maestro", hielt Jeremy Rufus zurück. Rufus wusste, wer das war. Maestro Young war einer der bedeutendsten Interpreten von moderner klassischer Musik und schon zu Lebzeiten eine Legende. Jeremy ergriff das Wort. „Maestro, darf ich vorstellen, das ist mein Freund, Rufus, der Marquess von Sommerford St. Aubyn."

Rufus blinzelte etwas verlegen, weil Jeremy so angab. „Rufus reicht völlig, Maestro Young."

Der Dirigent lächelte und hielt ihm die Hand hin, in die Rufus gern einschlug. „Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen. Und ich freue mich auch, sie beide hier gemeinsam zu treffen. Wie geht es ihrem Bruder?"

„Sie kennen Richard? Nun, ich denke bestens. Wir sehen ihn am Wochenende."

„Ach ja, das Wochenende. Ich denke, das haben sich alle nach dieser Preisverleihung verdient. Sehe ich euch beide dort?", fragte Young an Jeremy gewandt.

„Ja sicher. Das lassen wir uns nicht entgehen. Bestimmt bekommen Sie eine Trophäe."

Young zog eine Augenbraue hoch. „Jeremy, das Letzte was ich brauche, ist noch ein Staubfänger. Aber Sie haben den wirklich verdient."

Jeremy lächelte. „Wenn Sie es sagen. Warten wir's ab."

„Doch, das haben Sie ganz sicher." Damit verabschiedete er sich und ließ die beiden etwas verblüfft zurück. 

„Hast du dem irgendwas erzählt?", fragte Rufus neugierig.

„Kein Wort, was er weiß, das muss er aus dem Klatsch und Tratsch hier im Hause haben."

„Wenn der dich so lobt, dann hast du wirklich gute Chancen."

„Wenn er mich lobt, ist das alles was ich brauche", gab Jeremy zurück und lächelte dann, „abgesehen von dir, natürlich. Komm sehen wir zu, dass wir wegkommen."

Da war Rufus natürlich sehr dafür. Aber erst müsste sich Jeremy umziehen und abschminken und wahrscheinlich müsste er auch ein paar Autogramme geben. Also beeilten sie sich, zur Garderobe zu kommen. Dort gab es für Jeremy direkt noch mal einen richtigen Kuss. Wie sie das hinbekamen, ohne dass Rufus an Jeremys Nase stieß, lag wohl an der Übung, die die beiden inzwischen miteinander hatten. Rufus legte den Kopf etwas zur Seite und nahm Jeremys Gesicht zwischen seine Hände. Jeremy schloss einfach die Augen und überließ Ru die Führung. Jeremy schmeckte noch leicht salzig von er anstrengenden Vorstellung, aber das war Rufus gerade recht. Und er war schon wieder etwas stoppelig. Umso besser. Jeremy legte ihm die Arme um die Hüfte und zog ihn näher zu sich, sodass Rufus seine Wärme spüren konnte. Aber sie wollten erst nachhause, oder nicht? Rufus knabberte ein weiteres Mal an Jems Unterlippe, dann setzte er lächelnd ab. „Nicht hier", hauchte er. „Okay." Dann eilte Jeremy sich mit dem Abschminken und Umziehen. Nebenbei erkundigte er sich nach Rufus' Tag und erzählte von dem Gespräch mit June. Noch immer hatte Rufus nichts von den Motorradreifen erzählt. Irgendwie wollte er nicht schon wieder über Probleme reden, wenn endlich alles so gut lief, doch als sie aus dem Bühnenausgang kamen und Jeremy dort noch etwas von Opernfans aufgehalten wurde, war klar, dass er es sagen müsste. "Wo ist deine Maschine?", fragte Jeremy endlich, als alle fort waren.

„Erzähl ich dir im Taxi." Rufus winkte einen der schwarzen Wagen heran und machte Jem die Tür auf. Dann stieg er hinterher und sah, wie Jeremy bereits besorgt schaute und etwas ahnte. „Sag nicht, dass der Typ am Theater war", begann er.

„Doch, ich fürchte schon. Die Reifen waren platt."

„Wie, platt? Beide gleichzeitig?"

„Ja, zerstochen."

„Dammit." Jeremy wirkte jetzt vollends alarmiert. „Hast du ihn gesehen?"

„Nein, aber er war da." Rufus versuchte ruhig zu bleiben, damit Jeremy sich beruhigte.

„Der war da und was dann? Hast du die Polizei verständigt?"

„Nein."

„Wieso nicht? Die müssen das wissen."

Daran hatte Rufus noch gar nicht gedacht. Wie konnte das sein, dass er daran nicht gedacht hatte? Traute er denen am Ende nicht zu, dass sie ihn und Jeremy beschützen konnten?

„Weiß nicht. Dann mach ich das jetzt." Rufus nahm sein Handy und rief bei der Polizei an. Die versprachen, eine Fahndung um das Theater herum zu machen. Vielleicht hatte jemand Oliver gesehen und könnte sagen, wo er hin- gegangen oder -gefahren sei.

„Das wird nicht viel bringen, nach mehr als einer Stunde," bemerkte Jeremy und schaute Rufus besorgt an.

„Tut mir leid, das war dumm, aber ich..."

„Ist nicht deine Schuld. Du bist durcheinander. Ist kein Wunder." Jeremy gab Rufus einen Kuss aufs Haar und legte ihm einen Arm um. Rufus legte den Kopf an seine Schulter. War es das? War er durcheinander? Hoffentlich wäre er beim nächsten Mal klüger. Oh, Zeus! Hoffentlich gäbe es kein nächstes Mal....

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now