Teil 1

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Das Morgenlicht fiel schon seit einigen Stunden durch die Fenster herein, nur hatte es erst jetzt das Bett erreicht, in dem Jeremy nahezu vollständig angezogen lag und unter schweren Wimpern blinzelte. Er streckte eine Hand zur Seite aus, wie um zu tasten, ob da noch jemand lag. Nein. Er stöhnte halb enttäuscht, halb verbittert über seinen ersten Instinkt. Was war das nur für eine Nacht gewesen? Er konnte sich nicht wirklich klar erinnern. Als er die Augen endlich ganz aufschlug, stellte er fest, dass er auch nicht ganz klar sehen konnte. Was immer er am Abend zuvor getrunken hatte, war eindeutig zu viel gewesen. Er hob den Kopf, woraufhin das Zimmer anfing sich zu drehen. Das war gar nicht gut. Er stöhnte und ließ den Kopf zurück in die Kissen fallen. Aufstehen würde jetzt keinen Sinn machen. Aber was ergab gerade überhaupt einen Sinn? Nach einer kleinen Weile, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, machte er einen neuen Orientierungsversuch. Das Four-Poster- Bett war aus dunklem Holz, die Tapete an den Wänden war teuer. Das Bild neben der Tür zeigte die Reproduktion irgendeines Turner Gemäldes. Er war in seinem Hotelzimmer in London. Daran konnte er sich nun doch ziemlich gut erinnern.

Er und die anderen Musiker hatten ihre Premiere gefeiert. Nach vier Wochen anstrengender Proben, mit nicht weniger anstrengenden Kollegen, war gestern Abend die First Night mit tosendem Applaus über ihn hereingebrochen. Das erklärte den Brummschädel. Langsam kamen einzelne Bilder der letzten Nacht zurück. Sie waren in einem dieser typischen English Pubs gewesen. Überall waren Spiegel gewesen und das Licht war gedämpft, nicht aber die Musik. Der Gastraum war voll mit Leuten, nicht nur Sängern und Orchestermusikern, auch anderen Gästen von anderen Partys. Jeremy schüttelte wieder den Kopf, als ob es ihm helfen würde, aber das tat es nicht. 

Er stand langsam auf. Dabei bemerkte er, dass er nur seine Schuhe ausgezogen hatte, bevor er ins Bett fiel, denn genau über die stolperte er nun beinahe. „Dammit", entfuhr es ihm. 

Du bist süß, wenn du fluchst ... Er schüttelte den Kopf. Da war keine Stimme, egal wie real es ihm schien. 

Im Bad ließ er das Wasser laufen und hielt seine Hände ins Waschbecken. Das kalte Nass tat gut und brachte seine Sinne ansatzweise mit der Umgebung in Einklang. Er schöpfte mit beiden Händen etwas davon und spritzte es sich ins Gesicht. 

„Besser." 

Jetzt konnte er seine Züge deutlich im Spiegel erkennen und das Schädelbrummen war so gut wie verschwunden. Nun meldete sich allerdings sein Geruchssinn überdeutlich. Sein Haar und seine Kleider rochen nach kaltem Rauch aus dem Pub. Er beschloss, eine Dusche zu nehmen und begann damit sich auszuziehen. Am Hemd fehlten die zwei untersten Knöpfe. Wieso das denn? Er streifte es über die Schultern ab und dabei fiel sein Blick zufällig in den Spiegel. Er war nicht sicher, ob er richtig sah, also ging er dichter heran. Ohne Frage waren da zwei, nein sogar drei rot-violette Male an seinem Hals und der Schulter. 

„Dammit."  

Er tastete vorsichtig nach einem der Male. Es gab keinen Zweifel. Das waren Knutschflecken. Einer wies sogar erkennbare Abdrücke von Zähnen auf. Jeremy blinzelte mehr als überrascht. Warum genau schien ihm nicht eindeutig. Was war daran jetzt sonderbarer? Dass er nicht längst wieder welche hatte oder dass er sich nicht erinnern konnte, wie es überhaupt dazu gekommen war? Er nahm erstmal einen ordentlichen Schluck Wasser aus dem Hahn, dann starrte er zurück in den Spiegel. Auch seine Unterlippe war nicht verschont geblieben. Jetzt kam er sich vor wie ein dummer Junge. Die erste, noch dazu echt wilde Knutscherei seit Jahren und er war nahezu völlig ohne Erinnerung. Er schnappte sich sein Hemd. Da war kein Lippenstift oder Make-Up am Kragen oder sonst wo. Es hätte ihn auch mehr als überrascht, wenn das eine Frau gewesen wäre. Nichts für ungut. 

„Was hast du dir bloß dabei gedacht?", wandte er sich an sein Spiegelbild. 

Die Antwort kam natürlich nicht, aber was er im Gegenüber sah, erklärte trotzdem so einiges. Er sah keinen jungen Mann, aber noch längst keinen alten. Sein Haar war so dunkel wie eh und je. Nur hin und wieder fand der Friseur ein graues Haar. Sein Gesicht zeigte ein paar Linien, da wo man sie kriegt, wenn man viel lacht und als er ein Lächeln versuchte, sah er auch gleich jünger und ohne Zweifel attraktiv aus. 

Dunkles Haar. Und der Geschmack von Himbeer und ... Jeremy schloss die Augen. 

Die Erinnerung, die jetzt kam, war nur bruchstückhaft. Schwarzes Haar, lockig. Und der Typ kein bisschen schüchtern. Der Kuss ...die Küsse, an die er sich jetzt erinnerte, ließen ihn in der Erinnerung rückwärts taumeln. An irgendeine Wand, die er beinahe an den Handflächen spürte. Die Hände des anderen waren in seinem Haar und zogen leicht daran. 

Du kannst die Wand anfassen oder mich ... 

Ich ... 

dich ... 

Oh dammit ... 

Du bist süß, wenn du fluchst ... 

Der andere presste sich an ihn, er zog an seinem Hemd ... Jeremy suchte nach seinen Lippen ...

Wer war das und wo kam der her? Und obwohl er nach kalter Zigarette roch, schmeckte er nach Himbeer, nach mehr ... Sein Puls raste ...

Jeremy brauchte mehr Wasser. Im Gesicht und zum Trinken. 

Als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte, beschloss er, der Sache nachzugehen. Er würde im Pub nachfragen. Zwei Typen knutschten nicht völlig unbemerkt von anderen, richtig? Irgendwer hatte sie bestimmt gesehen. Er würde seine Begleiter vom Abend fragen. Er würde, auch wenn das nicht die bevorzugte Variante war, in dem Pub nachfragen. Er würde den anderen Mann erkennen, wenn er ihn wiedersah. Da war er sich ganz sicher. 


>>> Das PS -starke und super schicke Cover hat mir der Vampirfürst Riley Escanor-Mcforest entworfen. Herzblut-mäßigen Dank dafür:)   



No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now