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„Wie fühlen Sie sich gerade?" fragte mich Mrs. Pravior mit einer sanften Stimme und stellte mir gleichzeitig eine Tasse Tee vor die Nase. Sie war Mitte vierzig und meine Therapeutin. Ihre Sitzungen hielt sie bei sich selbst zu Hause in einem wundnerschönen hellen Zimmer, den sie extra für ihre Patienten renovieren hat lassen. Er besaß ein riesengroßes Fenster mit Ausblick auf einen kleinen See und im Hintergrund wuchsen die hohen Bäume mit ihren langen Ästen ineinander. Mein Platz war das breitere Fensterbrett davor, das mit Kissen verziert war.
Schulterzuckend sah ich betrübt aus dem Fenster neben mir. Es waren nun schon exakt drei Wochen seit meiner Vergewaltigung vergangen und ich fühlte immer noch keine seelische Besserung in mir. Trotz Therapeutischen Hilfe die mir fast täglich von der Polizei verfügbar gestellt wurde.
„Fühlen Sie immer noch diese stendige Traurigkeit die Sie mir letztens beschrieben haben?" fragte Mrs. Pravior weiter und setzte sich gegenüber von mir in einen breiten, großen Sessel.
„Ich sehe immer noch keinen Sinn in meinem Leben" antwortete ich ehrlich und starrte in den See, der sich dank der Sonne spiegelte.
„Haben Sie mit Dylan gesprochen, so wie ich es Ihnen letztes Mal vorgeschlagen hatte?" fragte sie weiter und überkreuzte ihre Beine. In der Hand hielt sie ein schwarzes Notizbuch samt Kugelschreiber, worin sie all meine Antworten dokumentierte.
Kopfschüttelnd blickte ich stumm auf meine Hände herab. Mrs. Pravior hatte mir letzte Sitzung vorgeschlagen, das ich mit Dylan über meine Sorgen sprechen solle, da ich ihr anvertraute, das ich Dylan liebe.
„Ich schäme mich in der Anwesenheit von ihm" gab ich zu.
„Weshalb?" nickend kritzelte sie irgendetwas in ihr Büchlein hinein.
„Weil ich mich einfach wie eine Schlampe fühle" flüsterte ich mit all meinem Mut und schluckte kräftig. Es schmerzte allein nur an diese zwei Abende zu denken. Jedes mal wenn ich Dylan in die Augen sah, hatte ich das Gefühl als würde er mich mit einem anderen Blick sehen. Als würde er mich nun verachten und am liebsten einfach verlassen. Als hätte ich ihn mit Harry betrogen.
„Sie sind keine Schlampe Ms. Griebens. Für die Verbrechen was Mr. Hockman Ihnen angetan hat, können Sie nichts dafür" versuchte sie mich aufzumuntern, allerdings funktionierte das nicht. Mir selbst war bewusst, das ich keinerlei Kontrolle über Harry besaß, doch irgendetwas in mir darin weigerte sich strikt dagegen, dies einzusehen. Es suchte die Schuld bei mir.
Ich selbst überlegte auch schon seit Wochen wie ich diesen Schmerz entkommen könnte. Ich überlegte bereits zu meiner Großmutter nach Washington zu ziehen. Denn alles was ich hier in Bar Harbor ansah erinnerte mich an den Tod meines Vaters, an den Tod meiner Mutter und an Harry. Mir kam es bereits so vor als würde in dieser kleinen Stadt alles zerstört werden, was mir lieb war.
„Wo fühlen Sie sich momentan am wohlsten?" kam auch schon die nächste Frage aus der Stille.
Nachdenklich wanderte mein Blick wieder zu den Bäumen hinaus. Ich hatte keine Ahnung wo ich mich wohl fühlte. Nirgends um ehrlich zu sein. Nicht einmal in meinem Bett unter der Decke verkrochen.
„In der Vergangenheit" antworte ich schließlich. „Ab dem Zeitpunkt meiner Geburt bis zu dem Tod meines Vaters"
Ich wollte einfach nur zurück. Ich vermisste die Zeiten wo Mum, Dad und ich wie eine normale Familie zusammen am Esstisch saßen und miteinader redeten. Uns über lustige Dinge unterhielten, die uns neulich passiert waren.
„Besuchen Sie Ihre Eltern denn noch am Grab?" Ich konnte nie Mrs. Praviors Mimik  einschätzen. Sie sah irgendwie immer neugierig, allerdings auch gutmütig aus.
„Nein" antworte ich schlicht.
„Warum?"
Kopfschüttelnd berührte ich vorsichtig die Glasscheibe mit meinen Fingerspitzen. „Was sollte ich dort denn machen? Ihnen nach weinen? Das würde doch sowieso nichts bringen"
Nickend betrachtete sie mich mit einem gleichmäßigen Atem. „Wenn Sie an sie denken. Was fühlen Sie?"
„Ich fühle das Verlangen mich umzubringen"
Mit nun einer ernsteren Miene musterte sie mich genauer. „Denken Sie, werden Sie dies jemals in die Tat umsetzen?"
„Ich glaube, ich wäre viel zu feige dafür" antwortete ich und sah sie dabei kurz an. Erleichtert lockerte Mrs. Pravior wieder ihre Muskeln.
„Kann ich nun gehen?" fragte ich sie ungeduldig und sah kurz auf die Uhr, die kurz nach Mittag anzeigte.
Nickend riss sie einen kleinen Zettel von ihrem Notizbuch herunter und schrieb schnell das nächste Datum für die Sitzung darauf. „Ich möchte, dass Sie das nächste mal eine Stunde früher kommen" sprach sie zu mir und reichte mir anschließend den Zettel.
Nickend sah ich darauf und stand schließlich auf.
„Bis nächstes Mal" verabschiedete sie sich von mir und öffnete mir mit einem Lächeln die Türe.
Hastig stopfte ich mir den Zettel in die Hosentasche und rannte anschließend schnell aus dem Haus.

Als ich draußen an der frischen Luft angelangt war, atmete ich tief durch. Ich hörte die Bäume aneinader rascheln und die Vögel singen.
Als ich mich umsah, entdeckte ich auch schon Dylans Auto am Straßenrand geparkt. Er holte mich immer nach meiner Sitzung höchstpersönlich ab. Obwohl er eigentlich vom Staat Hausarrest hatte, genehmigte ihm allerdings der Richter mich immer nach meiner Therapie abzuholen, solange es seine Sozialarbeit nicht beeinflussen würde.
Langsam schlenderte ich zum Auto hinüber und riss die Beifahrerseite auf, um mich anschließend hinein setzen zu können.
„Hey" begrüßte er mich vorsichtig und sah mich mit einem kurzen Lächeln an. Seitdem Vorfall wusste er nicht mehr wie er mit mir nun sprechen soll, doch ich verübelte es ihm nicht. Selbst ich selbst hatte keinen Plan wie ich mit mir am besten umgehen sollte. Mein Körper fühlte sich so fremd an.
Schweigend sah ich aus dem Fenster und ignorierte Dylan einfach nur. Es war hart und gemein von mir. Doch ich wusste nicht wie ich auf solch eine angespannte Begrüsung reagieren sollte.
Aus der Stille heraus ertönte einfach nur der schnurrende Motor des Autos.

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