Vergangenheit

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Am späten Vormittag bin ich wieder allein. Éowyn und Faramir machen einen Spaziergang in den Gärten und ich möchte sie keinesfalls stören. Überall in der Stadt sind die Leute mit der Versorgung der Verletzten und den Reparaturen der Häuser und Mauern beschäftigt. Zu jedem Wachpostenwechsel alle drei Stunden läutet die Glocke der Turmwächter. Ihr Klang erfüllt mich jedes Mal aufs Neue mit Sehnsucht. Mag sein, dass das Heer erst gestern aufgebrochen ist, aber es kommt mir bereits jetzt wie eine Ewigkeit vor. Dabei können sie das schwarze Tor noch gar nicht erreicht haben. Bis dahin sind es mindestens drei Tagesmärsche von Minas Tirith. Schnell schiebe ich den Gedanken beiseite und setze meinen Weg durch die Gassen fort. Meine Füße stehen nicht still bis ich vor dem großen Tor stehe, das nur wenige Stunden am Tag geöffnet ist. Ohne länger darüber nachzudenken, setze ich mich wieder in Bewegung. Die Geräusche der Stadt verklingen langsam hinter mir und die Ebene des Pelennor erstreckt sich vor mir. Das Gras ist nicht mehr grün, es ist braun – an manchen Stellen schwarz – und zerdrückt von den Hufen der Pferde, den Füßen der Kämpfenden und dem Gewicht der Olifanten. Die Toten sind verbrannt, nur noch Asche, die vom Wind fortgeweht wird. Ich verdränge den Gedanken und halte geradewegs auf den Anduin zu. Der breite Fluss rauscht ruhig vor sich hin, für ihn spielt die Zeit keine Rolle. Das Wasser fließt vorbei an Schlachten, an Streit und Zwietracht und kümmert sich nicht darum, denn solange Illuvatér will, wird es nicht versiegen. Bis ich den großen Strom erreiche, dauert es eine Weile und die Sonne und mit ihr die Maia Arien wandert am Himmel weiter. Es ist schon nach Mittag als das Gras unter meinen Füßen wieder saftiger wird und die ersten Blüten zwischen den Halmen hervorspähen. Lilien, Mallos und vereinzelte Schlüsselblumen wachsen hier. Sie alle verströmen einen angenehmen Duft, der vor allem von den Lilien stammt. Mallos sind kleine, gelbe, glockenförmige Blumen, die es beinahe überall in Gondor gibt. Sie sind den Elanor ähnlich, den Sonnensternen, die im Wald von Lórien gedeihen. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu den Jahren, die ich im Reich von Lord Celeborn und Lady Galadriel verbrachte. Damals traf ich Aragorn nach dreißig Jahren endlich wieder. Diese Erinnerung erwärmt mein Herz und lässt es gleichzeitig leiden. Jeder Gedanke an den Erben Isildur macht mir erneut klar, wie unnütz ich bin. Mag sein, dass ich eine gute Heilerin bin, aber für einen Kampf bin ich nicht zu gebrauchen. Deshalb bewundere ich Laladriel sehr. Die Elbenprinzessin kann sowohl eine starke Kriegerin, als auch eine edle Dame sein. Unweigerlich frage ich mich, wie wohl meine Zukunft aussieht. Lady Galadriel sagte mir, mein Ziel sei noch ungewiss. Ungewiss... Das Wort scheint in meinem Kopf nachzuhallen wie das Echo in einem großen Saal. Ungewiss ist auch die Rückkehr meiner Gefährten. Schnell schüttle ich den Kopf und pflücke ein paar Blumen, um mich abzulenken.

Am späteren Nachmittag erreiche ich den sechsten Ring. Als ich die Häuser der Heilung und die Gärten rundherum sehen kann, erinnere ich mich an Alana. Sie sagte, sie lebe hier in diesem Ring der Stadt, in der Nähe dieser heilenden Häuser. Kurzerhand beschließe ich die alte Frau zu besuchen. Ich brauche sie nicht allzu lange zu suchen, denn sie sitzt auf einer Bank vor einem kleinen Häuschen und flechtet aus einigen Weidenruten einen Korb. Unschlüssig bleibe ich in ordnungsgemäßem Abstand stehen und betrachte die Blumen in meiner Hand. Alana hebt den Kopf und lächelt.

» Komm nur, mein Kind, hier ist noch ein Platz frei «, sagt sie und weist neben sich. Schweigend komme ihrer Aufforderung nach. Sobald ich sitze, strecke ich ihr den Strauß entgegen – dabei komme ich mir fast vor wie ein kleines Kind, das seiner Mutter eine Freude machen möchte –

» Hier, der ist für Euch «.

» Nun fang nicht wieder damit an «, meint Alana und hebt gespielt drohend den Finger. Dann sieht sie sich die Blüten genauer an und riecht an ihnen.

» Oh, vielen Dank «, sagt sie schließlich, drückt mir den halbfertigen Weidenkorb in die Hand und verschwindet im Haus. Von drinnen höre ich es klappern, dann ertönt die Stimme der alten Dame

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