Prolog

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Es war einmal an einem regnerischen Nachmittag vor vielen, vielen Jahren. Der junge Estel lebte seit geraumer Zeit in Imladris. Estel bedeutet in der Sprache der Elben "Hoffnung". An jenem Tag hielt es der Kleine einfach nicht mehr aus, er wollte unbedingt nach draußen in die Wälder in der Nähe des letzten heimeligen Hauses östlich der See. Die Zwillinge Elrohir und Elladan, Söhne des Herren von Bruchtal, erfüllten im schließlich seinen Wunsch und ritten mit ihm in den angrenzenden Wald. Viele Stunden streifte er dort durch das Gebüsch und hatte seinen Spaß damit, sich vor den beiden großen Elben zu verstecken. So kam es, dass er zwischen den Wurzeln eines hohen, alten und knorrigen Baumes Schutz suchte. Eine Weile hockte er still da und wartete. Da vernahm er ein Geräusch, das sich anhörte wie leises Schluchzen. Vorsichtig kletterte er über eine dicke Wurzel und da saß es. Ein kleines Mädchen, vielleicht etwas jünger als er selbst. Es hatte die Knie dicht an den dünnen Körper gezogen und die Arme eng darum geschlungen. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber an dem Zittern und Beben der Schultern des Mädchens konnte Estel sehen, dass es weinte. Langsam näherte er sich der kleinen Gestalt und ließ sich ihr gegenüber im Moos nieder. Eine Weile geschah gar nichts, doch dann hob das Mädchen den Kopf und schrak zurück. Ihre großen Augen hatten die Farbe von Tannennadeln mit einigen braunen Flecken. Das schmale Gesicht wurde von dunkelbraunen, leicht gelockten Haaren umrahmt, die dem Mädchen offen über die Schultern fielen. Die dezent gebräunte Haut war an den Wangen tränennass. Das Mädchen hatte Angst, ließ sich jedoch nichts anmerken. Nur die aufgerissenen Augen deuteten darauf hin. Estel betrachtete sein Gegenüber noch einige Momente schweigend, dann fragte er mit gedämpfter Stimme

» Wie heißt du? «. Die Kleine antwortete nicht, also streckte Estel seine Hand nach ihr aus. Misstrauisch betrachtete das Mädchen die Finger des Jungen, hielt sich jedoch zurück. Die Wurzeln des Baumes schienen sich leicht zu bewegen und er zog seine Hand schnell zurück und fixierte die Wurzeln. Nun war alles ruhig, vermutlich hatte er sich die Bewegung nur eingebildet.

» Du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts «, stellte Estel klar und beobachtete aus dem Augenwinkel den Baum. Das Mädchen legte leicht den Kopf schief, wischte sich über die Wangen und atmete tief durch.

» Ich heiße Lucea «, piepste es schließlich. Estel freute sich, dass das Mädchen endlich etwas sagte und stellte sich selbst vor. Die beiden Kinder wurden bald von Elrohir und Elladan gefunden und so kam Lucea nach Imlardis, wo sie von nun an lebte. Elronds Tochter, Arwen Undómiel, schloss das gerade einmal neun Jahre alte Mädchen schnell ins Herz und nahm es als Ziehtochter an. So wuchsen Lucea und Estel zusammen auf. Doch woher kam das mysteriöse Mädchen nur?

Lucea stammte aus einem Dorf im Norden Mittelerdes. Dort lebte sie mit ihrem Vater und ihrer Tante mütterlicherseits, die sich die meiste Zeit um ihre Nichte kümmerte. Ihre Mutter war schon einige Jahre nicht mehr da. Eines Tages trocknete der Fluss aus, der das Dorf mit frischem Wasser versorgte. Man ging der Sache auf den Grund und fand einen Damm weiter flussaufwärts. Zunächst wusste niemand, wer diesen Damm errichtet hatte und man schob es auf die Bieber, die dort zu Haufen lebten. Doch es waren nicht die Bieber, sondern Haradrim. Eine Horde der wilden Südmenschen, die zu dieser Zeit dort oben herumzog und eine Schneise der Verwüstung hinterließ. Bald kam es, wie es kommen musste: Sie überfielen das Dorf, plünderten und brandschatzen. Sie töteten jeden, der sich ihnen wiedersetzte und nahmen alle anderen als Gefangene mit. Luceas Tante entkam zusammen mit ihrer kleinen Nichte und brachte sie in den Fangornwald zu den Ents und Huorns. Dort vertraute sie Lucea dem Schutz des alten Tom Bombadil an und starb bald darauf. Zum Glück konnte Lucea ganze drei Jahre bei den Waldbewohnern leben, die sich schließlich dazu entschlossen, ihren Schützling nach Bruchtal zu bringen.

Estel und Lucea waren beinahe unzertrennlich. Nur mit Waffen konnte das junge Mädchen nicht viel anfangen. Sie konnte zwar einen Dolch benutzen, wenn es sein musste, aber gerne tat sie es nicht. Jedes Mal, wenn sie eine Waffe berührte, zog ein seltsames Kribbeln durch ihre Finger. Also wandte sie sich der Heilkunst zu und fand in ihrem "Großvater" Elrond einen hervorragenden Lehrer. Doch das glückliche Leben in Imladris fand ein jähes Ende, als sich Estel, der unter vielen Namen bekannt ist, mit zwanzig Jahren entschloss, fortzugehen und die gerade einmal 17-jährige Lucea zurückließ. Nachdem er fort war, zog sie sich immer mehr zurück. Deshalb beschloss Arwen, mit ihrer Ziehtochter nach Lothlórien zu gehen und eine Weile bei der Familie ihrer Mutter zu leben. Etwa dreißig Jahre verbrachten sie dort. Während dieser Zeit lernte Arwen den Hauptmann Haldir kennen und die beiden wurden ein Paar. Irgendwann betrat Estel Lórien, müde vom vielen Kämpfen. Zusammen reisten die drei nach Imladris, um ihr Wiedersehen zu feiern. Doch lange währte die Freude nicht, denn Gandalf Graurock tauchte auf und bat Estel, ihn auf der Suche nach einer Kreatur namens Gollum zu unterstützen. Nun war er erneut fort und Lucea blieb in dem Wissen zurück, dass der Eine Ring wieder aufgetaucht sei.

Diesmal verging nicht allzu viel Zeit bis zu ihrem nächsten Wiedersehen, denn Estel brachte den schwerverletzten Ringträger nach Bruchtal. Im Schlepptau drei weitere Hobbits, die vor Müdigkeit kaum noch stehen konnten. Der Ringträger namens Frodo Beutlin erholte sich dank den Heilkünsten Elronds rasch, was bei einer Verletzung durch eine Morgulklinge nicht selbstverständlich ist. Es wurde Elronds Rat einberufen, der in wenigen Tagen stattfinden soll.


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