Medaillon

449 22 0
                                    

~Lucea~

Als ich mein Gemach betrete, wartet bereits jemand auf mich. Meine Ziehmutter steht am Fenster und hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ihre langen Haare wehen leicht in dem Wind, der durch die Balkontür hereinbläst.

» Du wirst mit ihnen gehen, nicht wahr? «, fragt sie traurig. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe sie an. Langsam dreht sich die schöne Elbin zu mir um.

» Ja «, antworte ich schlicht. Arwen kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm.

» Du weißt, dass das viel zu gefährlich für dich ist, Kind. Du kannst doch nicht kämpfen «, erklärt sie,

» Bitte, geh nicht «. Verwirrt sehe ich sie an. Ich weiß, dass ich nicht gut kämpfen kann. Das einzige, das mich mit Waffen verbindet, ist wohl der Dolch, den ich gerade einmal richtig halten kann. In diesem Moment kommen mir Zweifel, ob meine Entscheidung richtig war. Arwen und Aragorn sind diesbezüglich wohl einer Meinung.

» Ich muss, tuc-emel, ich habe mein Wort gegeben «, flüstere ich,

» Außerdem bin ich doch schon recht alt. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber du weißt, dass ich Recht habe. Ob ich nun im hohen Alter sterbe oder durch die Hand eines Orks ist nun vollkommen gleichgültig «. Mit großen Augen sieht mich die Schwarzhaarige an und hält mich auf Armeslänge von sich weg.

» Weißt du eigentlich, was du da sagst? «, fragt sie schockiert,

» Ist dir dein Leben denn nicht wichtig? «. Ich zucke nur mit den Schultern und senke meinen Blick. Ich weiß nicht, ob mir mein Leben wichtig ist. Das ist auch eine schwere Frage für jemanden wie mich. Was soll man als Mensch zwischen den unsterblichen Erstgeborenen auch sagen? Doch da schießt mir ein neuer Gedanke durch den Kopf

» Was erwartest du von mir? Dass ich mein restliches Leben hinter diesen Mauern verbringe, untätig und in Sicherheit? «. Arwen schüttelt nur den Kopf und ich wiederhole nochmals, dass ich doch sowieso schon ziemlich alt bin. Aus Menschensicht jedenfalls.

» Das würde stimmen «, sagt meine Ziehmutter langsam,

» Aber es gibt da etwas, das du vielleicht noch wissen solltest... «. Sie spricht lange Zeit nicht weiter, deshalb frage ich nach

» Was denn? Was sollte ich wissen? «. Die Elbin holt einmal tief Luft

» Als du mit neun Jahren hierher kamst, warst du ein sehr stilles Kind. Du hattest viel Schreckliches mit ansehen müssen. Du hattest damals etwas bei dir... «. Sie steckt die Hand in den Ärmel ihres Kleides und holt etwas hervor. Aus ihrer zur Faust geballten Hand lugt nur ein Stück Kette hervor.

» Was ist das? «, will ich wissen. Neugierig warte ich darauf, was nun kommen mag. Ganz langsam öffnet Arwen ihre Hand und zum Vorschein kommt ein Medaillon. Es ist silbern und vorne ist ein Symbol eingraviert. In das Metall ist ein Halbmond geritzt, in dessen Inneren die Strahlen einer Sonne zu sehen sind. Doch da ist noch etwas. In der Sichel des Mondes ist eine kleine, goldene Sonne eingelassen, es könnte auch ein Stern sein. In der Mitte jenes kleinen Symbols funkelt ein weißer Edelstein. Vorsichtig fahre ich mit den Fingerspitzen über das kühle Metall.

» Das ist wunderschön «, hauche ich,

» Aber... «, Arwen hebt die Hand

» Es gehört dir. Ich nahm es damals an mich, weil dieses Wappen schon lange nicht mehr gesehen worden ist. Ich dachte, du wärst sicherer, wenn du ohne diese Kette und ohne ihre Vergangenheit aufwachsen könntest «. Verwirrt sehe ich die Elleth an.

» Ein Wappen? Was für ein Wappen? «, frage ich nach.

» Du erinnerst dich vielleicht nicht an diese Kette «, erklärt Arwen. Doch, ich erinnere mich dumpf an dieses Schmuckstück. Meine Tante drückte sie mir in die Hand, bevor sie starb. Sie sagte mir, dass dies einst meiner Mutter gehört hätte. In ihrer Familie war dies ein besonderes Erbstück, das von Vater zu Sohn weitergegeben wurde. Doch meine Mutter hatte keinen Bruder und so ging das Medaillon an sie.

» Ich weiß es noch... «, flüstere ich. Arwen nickt nur und legt mir die Kette in die Hand.

» Verwahre es gut und verlier es nicht «, ermahnt sie mich. Ich ziehe die Stirn kraus

» Moment, was bedeutet das nun? «. Einen Augenblick schließt meine Ziehmutter die Augen

» Dieses Wappen gehörte einst einer Familie aus dem Norden. Einer sehr alten Familie, die noch das reine Blut der Dúnedain in sich trug «. Meine Augen werden groß

» Soll das heißen, dass... «, wieder unterbricht mich Arwen

» Dass du eine Dúnedain bist, ja. Das erklärt auch, warum du noch immer aussiehst wie zwanzig. Lucea, du hast noch viele Jahre vor dir. 80 ist kein Alter für die Dúnedain «. Tränen glitzern in ihren Augen

» Es tut mir leid, ich hätte es dir eher sagen müssen «. Ich sehe sie an und umarme sie fest.

» Das ist nicht schlimm, ehrlich «, beschwichtige ich sie,

» Ich bin nur...überrascht «. Das ist eigentlich gar kein Ausdruck für das Chaos, das gerade in meinem Kopf herrscht. Unendlich viele Fragen kommen mir in den Sinn. Doch eine von ihnen sticht heraus. Haben andere diesen Umstand bemerkt, ehe ich selbst es überhaupt erahnen konnte? Warum habe ich es nicht geahnt? Ich lebte stets nur vor mich hin, verschwendete nicht viele Gedanken an mich selbst, sondern war mehr um das Wohle anderer besorgt.

Am nächsten Morgen stehe ich noch früher auf als sonst. Gestern hat mir Arwen noch beim Packen geholfen. Eine kleine Tasche aus Leder wird mein ständiger Begleiter sein. Darin befinden sich jede Menge wichtige Kräuter und einige andere nützliche Dinge. Rasch ziehe ich mich an. Diesmal kein Kleid, sondern eine lederne Hose und eine weiße Bluse. Darüber einen Lederharnisch. Unter dem Kragen verstecke ich das Medaillon. Ich habe beschlossen, das Geheimnis meiner Herkunft für mich zu behalten. Alles soll so bleiben wie gewohnt. An meinen Gürtel hänge ich den Dolch, den ich einst von Elrond bekommen habe. Alles andere wird das Pony Lutz tragen. Decken, Vorräte, Töpfe, Besteck und so weiter. Meine Haare bürste ich sorgfältig und stecke die vorderstehen Strähnen nach hinten. So fallen sie mir nicht ins Gesicht. Zum Schluss schlüpfe ich in meine Stiefel und sehe mich noch einmal in meinem Gemach um. Alles ist ordentlich aufgeräumt. Nur das Kräuterbuch liegt noch auf dem Ohrensessel vor dem Fenster. Ich lasse es dort. Sollte ich jemals hierher zurückkehren, wird mich dieses Buch willkommen heißen. Ich werde einen letzten Blick aus dem Fenster und wende mich ab, um in den Hof hinunter zu gehen.



tuc-emel - Ziehmutter

Follow the SunWhere stories live. Discover now