Gesichter

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Als ich die Augen aufschlage, blicke ich direkt in Aragorns Gesicht. Erschrocken fahre ich hoch, doch er ist verschwunden. Stattdessen sieht mir nun Arwen entgegen.

» Arwen? «, flüstere ich. Keine Antwort. Die schöne Elbin schaut mich unverwandt an. Hinter ihr erscheinen immer mehr Leute. Elrond, Haldir, Glorfindel, Laladriel, Legolas, Merry, Pippin, Gimli, Frodo, Sam, Gandalf, Lady Galadriel, Lord Celeborn, Éowyn, Elladan, Elrohir und...Boromir. Sie alle stehen da, unbewegt. Langsam stehe ich auf und gehe auf Boromir zu.

» Wie kann das sein? Du bist gefallen... «, sage ich. Er lächelt. Es ist kein schönes Lächeln. Kalt, höhnisch. Dann beginnt er zu lachen. Nicht das warme Lachen, das so typisch für ihn war. Nein, auch das Lachen klingt glatt und falsch. Nach und nach stimmen die anderen mit ein. Immer lauter lachen sie, ihre Stimmen scheinen zu verschmelzen. Da entdecke ich jemanden. Besser gesagt zwei, die sich an den Händen halten. Sie lachen nicht. Es ist lange her, dass ich sie zuletzt gesehen habe, dennoch erkenne ich sie sofort. Ich gehe auf sie zu. Die anderen weichen vor mir zurück, doch lachen sie weiter. Nun scheint der Ton in die Ferne gerückt, leiser.

» Mutter, Vater «, hauche ich und bleibe vor meinen Eltern stehen. Ich strecke die Hand aus, um den Arm meiner Mutter zu berühren, meine Finger gleiten durch sie hindurch wie durch dichten Nebel. Während ich das Paar anstarre, beginnt es sich aufzulösen.

» Nein, bleibt hier! «, rufe ich aus. Auf dem Gesicht meiner Mutter erscheint ein kleines Lächeln. Fast entschuldigend, dann ist sie fort. Mit einem Mal ist das Lachen wieder da. Schriller und lauter als je zuvor.

» Das wird allen geschehen, die du liebst «, sagt plötzlich eine Stimme und übertönt das Lachen. Ich wirble herum und suche nach dem Sprecher.

» Alle werden fallen und zuletzt du selbst «. Lady Galadriel tritt vor mich hin, ihre Augen durchbohren mich förmlich.

» Warum? «, hauche ich.

» Wegen dir «, die Antwort trifft mich wie ein Schlag. Ich sinke auf die Knie und die schemenhaften Gestalten drängen sich um mich herum. Sie lachen und echoen immer wieder diese letzten beiden Worte. Verzweifelt presse ich mir die Hände auf die Ohren, doch es nützt nichts. Ihre Stimmen setzen sich in meinen Gedanken fest, zerren an jeder Erinnerung. Mit letzter Kraft springe ich auf, reiße die Tür zu meiner Kammer auf und renne den Gang entlang. Nur weg von diesem Schrecken. Es kommt mir vor, als würde ich durch Honig laufen, so zäh lassen sich meine Füße vorwärtsbewegen. Die Gestalten folgen mir. Ich höre ihre Schritte nicht, doch ihre Stimmen hallen hinter mir her und klammern sich an mir fest. Irgendwann erreiche ich den Hof. Der weiße Baum ist so kahl wie eh und je, sein Stamm gespalten und seine Äste abgeknickt. Die letzte Hoffnung Gondors, der gesamten Menschheit ist dahin. Ein Horn ertönt und zieht meinen Blick auf eine Gruppe Reiter, die angaloppiert kommen. Nicht mehr als ein Dutzend Soldaten mit blutverschmierten Gesichtern und abgebrochenen Lanzen. In ihrer Mitte läuft ein Pferd mit einem Bündel auf dem Rücken. Die Männer steigen schweigend ab, heben das Bündel herunter und legen es vor mir zwischen die Wurzeln des weißen Baumes. Da erkenne ich, dass es ein Mann ist. In seiner Brust, mitten im Herzen steckt ein Dolch. Mein Dolch. Das weiße Gesicht des Mannes kommt mir bekannt vor. Unter dem vielen Blut entdecke ich sturmgraue Augen, die starr gen Himmel gerichtet sind. Es ist Aragorn. Ich schreie, Tränen rinnen über meine Wangen, das Lachen dröhnt in meinem Kopf, mein Herz zersplittert in tausend Scherben. Der Schmerz übermannt mich und alles wird schwarz.

Mit einem Schrei schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Mein Nachthemd ist schweißnass und klebt an meinem Körper. Tränen rollen unaufhörlich über meine Wangen. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen als wolle es zwischen ihnen herausbrechen. Erfolglos versuche ich, gleichmäßig zu atmen und mir einzureden, dass es nur ein böser Traum war. Doch die Bilder fühlten sich echt an, zu real. Noch immer sehe ich jedes einzelne vor meinem geistigen Auge. Plötzlich wird die Tür aufgerissen und zwei Personen treten ein. Die eine ist Éowyn in einem langen Leinennachthemd, die andere ist ein Wachmann.

» Lucea, was ist passiert? «, fragt die Schildmaid Rohans besorgt und eilt an meine Seite.

» Nichts «, krächze ich leise, mein Hals fühlt sich staubtrocken an.

» So siehst du aber nicht aus «, meint sie beharrlich und wendet sich dem Soldaten zu,

» Ihr könnt gehen, vielen Dank «. Der Angesprochene nickt, wirft uns einen letzten Blick zu und schließt die Tür hinter sich.

» Also? «, fragt Éowyn und sieht mich abwartend an.

» Es ist alles in Ordnung, nur ein Alptraum «, bringe ich nach einem Räuspern hervor.

» Ach, weißt du was, ich lasse dir jetzt ein Bad ein und du entspannst dich ein bisschen. Im Moment siehst du aus als hättest du einen Geist gesehen «, meint sie und wuselt im Badezimmer herum. Vermutlich weiß sie gar nicht, dass sie damit ins Schwarze getroffen hat. Die Gesichter in meinem Traum waren vielleicht keine Geister im herkömmlichen Sinn, aber dennoch haben sie etwas mit diesen Schreckgestalten gemein. Mein Puls beruhigt sich endlich. Mit wenigen Schritten bin ich am Fenster und sehe nach draußen. Es ist noch dunkel, doch am Horizont zeichnet sich der zarte Schimmer der Morgenröte ab.

» Komm, es ist alles bereit «, ruft Éowyn. Mit einem leisen Seufzen folge ich meiner Freundin ins Badezimmer.

Wieder frisch suche ich mir ein Kleid aus dunklem Stoff heraus und streife es über. Meine Haare lasse ich offen über meine Schultern fallen. Ich mag es, wenn der Wind darin spielen kann. Nach und nach verdrängt der Tag die düstere Nacht und die Stadt erwacht. Éowyn eilt in ihre Gemächer hinüber, um sich selbst anzukleiden. Anschließend werden wir gemeinsam frühstücken. Mal sehen, was der Tag dann bringen wird. Vielleicht wird in den Häusern der Heilung meine Hilfe benötigt. Ich wäre um jede Ablenkung froh. Alles ist besser als untätig herumzusitzen und ständig an das ausgezogene Heer denken zu müssen. In diesen Momenten kann ich nicht anders als mich zu fragen, wo Aragorn gerade sein mag und ob es ihm gut geht. Der Traum verkörperte im Grunde nichts anderes als meine unbeschreibliche Angst um meine Freunde, meine Liebe. Während ich hier in Minas Tirith mit einem Versprechen angekettet bin, kämpfen sie vielleicht gerade um ihr Leben. Diese Ohnmacht – nichts zu können, nicht zum Guten beizutragen – ist schrecklich. Mit jeder verrinnenden Stunde sehne ich den Augenblick sehnlicher herbei, Aragorn wiederzusehen, an der Spitze des Heeres, inmitten unserer Freunde.

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