Kapitel 32

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Schmerz. Was bedeutete Schmerz eigentlich? Laut einer Definition im Internet gab es zwei Arten von Schmerz. Der Körperliche und der Seelische. Doch welcher Schmerz war schlimmer? War es das qualvolle seelische Empfinden, oder vielleicht doch körperliches Leiden?

Wenn man mich nach meiner Meinung fragte, dann würde meine Antwort eindeutig lauten: Der Seelische. Denn von dieser Art Schmerz hatte ich in den letzten Monaten mehr als genug widerfahren: Trauer durch den Verlust eines geliebten Menschen; ein gebrochenes Herz durch das abrupte Ende einer Beziehung; Angst aufgrund des Missbrauchs durch eine andere Person; Und zu guter Letzt? Erneut ein gebrochenes Herz. Wie viel konnte ein Mensch also ertragen? Wie viel konnte ich noch ertragen, bis ich mich selbst vollkommen verlor?

Ich sah auf und blickte in mein Spiegelbild. Die dunklen Ränder unter meinen Augen waren zurückgekehrt, ebenso wie die eingefallenen Wangen. Wieder sah ich dem Mädchen ähnlich, das ich nach dem Tod meiner Mutter und dem Beziehungsaus mit Danny war. Ein Abbild meines Selbst.

Eine Woche war seit dem Vorfall mit Adam vergangen. Eine Woche. Sieben Tage. Hundertachtundsechzig Stunden. Genau so lange war es her, dass ich auch Logan zuletzt gesehen hatte. Logan. Er reagierte auf keinen meiner Anrufe, keine meiner Nachrichten, nichts. Es herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Natürlich hätte ich ihn in der Schule antreffen können, doch dazu war ich noch nicht bereit gewesen. Ich hatte diese Woche gebraucht, um den Vorfall mit Adam zu verarbeiten und zu realisieren, was eigentlich passiert war.

Nachdem ich an dem verhängnisvollen Tag des Umzuges zusammengebrochen war, hatte Lukas mich nach Hause gebracht. Kurze Zeit später kam ich in meinem Zimmer wieder zu mir und sah meinem aufgebrachten Bruder in die Augen. Er verlangte alles zu wissen, alles was zwischen Adam und mir vorgefallen war. Und ich tat es, ich brach endlich mein Schweigen. Ich erzählte Lukas alles, angefangen mit der Sache vor vier Jahren in Florida, bis hin zu dem Vorfall in Tante Carolyns und Adams Wohnung. Zwischenzeitlich brauchte Lukas eine Pause und tigerte wie ein aufgescheuchtes Tier in meinem Zimmer umher, da die Informationen und Vorstellungen was mit mir geschehen war, was mir angetan wurde, einfach zu viel für ihn war. Immer wieder war er sich mit den Händen übers Gesicht gefahren und konnte kaum glauben, was ich ihm erzählte. Unzählige Tränen waren geflossen und ich erlitt innerliche Qualen, als ich die ganzen Taten Adams noch einmal durchleben musste. Doch auf gewisse Art und Weise fühlte es sich auch befreiend an, alles herauszulassen, mich meinem Bruder endlich anvertrauen zu können.

Als ich mit meinen Erzählungen schließlich geendet hatte, verlangte Lukas von mir mit Dad und Tante Carolyn zu sprechen. Er war der festen Überzeugung, dass die beiden es erfahren sollten. Doch ich weigerte mich vehement dagegen. Ich wollte Dad unter keinen Umständen noch mehr Sorgen bereiten. Er hatte noch immer mit dem Tod unserer Mum zu kämpfen, das taten wir alle, Dad besonders. Es lastete unheimlich viel Verantwortung auf seinen Schultern und ich wollte ihn nicht noch mehr belasten als ohnehin schon.

Ab diesem Punkt brach eine hitzige Diskussion zwischen Lukas und mir aus, da wir schlicht und ergreifend unterschiedlicher Meinungen in diesem Thema waren. Aber Lukas wusste, dass er mich nicht dazu zwingen konnte, mit Dad oder Tante Carolyn über Adam zu sprechen. Also gab er schlussendlich klein bei, wenn auch unter großem Protest. Doch ich kam nicht umhin ihm versprechen zu müssen, mich Dad in naher Zukunft anzuvertrauen. Schließlich musste Adam für seine Taten früher oder später zur Rechenschaft gezogen werden.

Anschließend erzählte Lukas mir, dass sein Freund David Adam nach der Prügelei ins Krankenhaus gebracht hatte und versprach mir, Dad und Tante Carolyn nichts zu sagen. Allerdings mussten wir ihnen irgendwie erklären können, dass Adam plötzlich mit gebrochener Nase und Kiefer, sowie einer leichten Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag, ganz zu schweigen von den zahlreichen Platzwunden und den Veilchen an seinen Augen. Doch Lukas versprach sich auch darum zu kümmern und tischte den beiden auf, dass Adam noch einmal kurz in die Stadt gefahren war und dort von einer Gruppe Jugendlicher überfallen worden war. Nicht gerade die beste Lüge, insbesondere wenn man bedachte, dass es mitten am Tag war und es angeblich keinerlei Augenzeugen gab. Natürlich war Tante Carolyn völlig außer sich und beharrte auf eine Anzeige gegen Unbekannt. Adam dagegen war nicht blöd, er wusste, dass er von Glück reden konnte derart glimpflich davongekommen zu sein. Vorerst. Diese Ausrede war für ihn wie eine Rettungsleine und selbstverständlich verweigerte er die Anzeige, völlig zu Tante Carolyns Missfallen.

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