Kapitel 1

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Ich sah in den Spiegel und blickte zwei abgestumpften braunen Augen entgegen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihnen ab. Sie lagen in tiefen Furchen und instinktiv fragte ich mich, ob meine Augen schon immer derart leer und ausdruckslos aussahen, oder ob sie erst seit Anfang der Sommerferien diesen traurigen Blick angenommen hatten.

Ich wandte mich vom Spiegel ab, da ich mein eigenes Abbild nicht mehr ertragen konnte und schlüpfte in meine Lieblingsjeans. Nach einem prüfenden Blick in den Schrank, entschied ich mich für ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt.

Die Kleidung, die mir vor zwölf Wochen noch gepasst hatte, als wäre sie für mich maßgeschneidert worden, schlotterte nun an meinem knochigen Körper, als wäre sie mir mehrere Nummern zu groß. Ich war einmal hübsch gewesen, vor den Sommerferien um genau zu sein. Doch dann hatte sich mein Freund Danny urplötzlich nach zwei Jahren Beziehung von mir getrennt. Keine drei Stunden später war mein Dad nach Hause gekommen. Ich hatte es kaum erwarten können, mich in seine vertrauten Arme zu werfen, die mir schon von klein auf in schwierigen Zeiten Trost gespendet hatten.

Als ich allerdings in sein Gesicht geblickt hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, dass etwas passiert sein musste. Seine Augen waren gerötet, als hätte er geweint. Er wirkte, als wäre er zehn Jahre gealtert.

In meinem Bauch braute sich eine böse Vorahnung zusammen und mit einem Mal wartete ich nur darauf, dass er die Lippen öffnete, um mir die schlechte Nachricht zu überbringen; meine Mutter hatte einen Autounfall. Noch an der Unfallstelle erlag sie ihren Verletzungen. Welch toller Start in die Sommerferien und in das letzte Abschlussjahr der High School.

In diesen zwölf Wochen hatte ich mich Tag für Tag gefragt, was um alles in der Welt ich getan hatte, um solch ein mieses Karma verdient zu haben. Immerzu streiften dieselben Fragen durch meinen Kopf. Warum bestrafte mich das Universum auf so üble Weise? Warum hatte meine Mutter meinen Vater mit drei Kindern alleine gelassen? Warum hatte Danny sich plötzlich von mir abgewandt? Nichts war mir geblieben außer einem tiefsitzenden Schmerz.

Allerdings gab es eine Sache, die mich von meinem grauen Alltag ablenkte. Eine Tätigkeit, durch die ich in eine andere Welt schlüpfen konnte und ohne die ich die Sommerferien wohl nicht überstanden hätte. Mein Blick fiel auf die Ausgabe von Sturmhöhe, die auf meinem Bett lag.

Unzählige Male hatte ich mich in den Ferien in dieses Buch geflüchtet, in eine andere Person, eine Person, die genauso unter dem Tod eines geliebten Menschen und der verlorenen Liebe litt, wie ich. Mit schnellen Schritten ging ich zu meinem Bett und stopfte das abgenutzte Buch in meine Schultasche.

Der erste Tag nach den Ferien. Ich war nicht bereit dafür. Jede Faser meines Daseins schien sich vehement dagegen  zu wehren und doch setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg die Treppe hinab. Mir blieb nichts anderes übrig als weiter zu machen. Wie genau, wusste ich jedoch noch nicht.

In der Küche angekommen war mein großer Bruder Lukas und mein Dad Cedric bereits am Aufräumen. Sie hatten gewusst, dass ich zum Frühstück nicht erscheinen würde und dennoch stand wie an jedem Tag in diesen zwölf Wochen ein frisch zubereitetes Frühstück für mich bereit, das ich letztendlich wieder nicht anrühren würde.

Meine kleine Schwester Mia saß auf dem ihr viel zu großen Stuhl und rührte seelenruhig mit der bloßen Hand in ihrem Essen herum. Mit ihren vier Jahren konnte sie natürlich noch nicht begreifen, dass ihre Mutter nicht mehr da war, dass sie nie mehr wieder kommen würde.

Mein Blick schweifte auf den leeren Platz am Küchentisch, wo meine Mum jeden Morgen gesessen und in aller Ruhe die Tageszeitung gelesen hatte. Kurz stellte ich mir vor, sie wäre noch da. Ich stellte mir vor, sie würde noch immer an ihrem Platz am Kopfende des Tisches sitzen. Sie würde an ihrem Kaffee nippen und mir einen mahnenden Blick aus ihren strahlend blauen Augen zuwerfen, der besagte, dass ich wieder einmal zu spät dran war für die Schule.

Please love meWhere stories live. Discover now