Sein kleiner Bruder würde sich freuen, dachte Luciano grimmig. Wie sehr wünschte sich dieser Halbstarke immer, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und musste dennoch immer zurückstecken? Immerhin war er nie der hellste Stern am Nachthimmel und körperlich blieb bei ihm so mancher Muskel ungenutzt. Sein Aussehen dagegen, dass musste Luciano ihm lasse, machte Vieles wett. Ihre Kindheitsbilder ähnelten sich so sehr, dass man sie, abgesehen vom Alter, für Zwillinge hätte halten können.

„Boss", entgegnete Diego und deutete auf einen Eingang, wenige Meter westlich. „Dort könnten wir für diese Nacht unterkommen. Die suchen sicher bald nach uns."

„Und aus diesem Grund laufen wir weiter."

Es gab keine Einwände, denn seine Stimme hatte einen Ton angenommen, dem man nur sehr schwer wiedersprechen würde. Und da auch nur, wenn man einen Todeswunsch besaß. Luciano band sich die langen, schwarzen Wellen zu einem Zopf zusammen und schritt voraus, Diego und Pino dicht hinter sich.

„Sollen wir nach dem Rudel Ausschau halten?", fragte Diego zögernd.

„Wir haben nichts mit denen zu tun", blaffte Pino.

Die Truppe überquerte eine breite Hauptstraße und landete auf einem großen Parkgelände, das sich augenscheinlich noch in der Entstehung befand. Der sperrige Briefumschlag in Lucianos Hosentasche störte ihn schon eine Weile und endlich zog er diesen heraus, um ihn zu lesen. Seine Hand war von den Flammen verletzt und es fiel ihm sichtlich schwer, das Papier zu öffnen, aber niemand bot ihm seine Hilfe an.

Er überflog die Zeilen und stolperte erschrocken rückwärts. Seine Augen weiteten sich und Diego stellte sich an seine Seite, ohne ihn zu berühren. Alle hielten den Atem an und standen geduldig in der tiefschwarzen Nacht, umrundet von Trauerweiden.

„Dieser alte Sack", lachte ihr Boss auf. „Das darf doch nicht wahr sein", er trat in die Mitte und in dem seichten Licht des Mondes wirkte er beängstigend. „Del Monte läd uns ein. Zu einem Fest, um seine einzige Tochter in der Familie willkommen zu heißen und sie als Braut freizugeben."


Giovanni hatte Felicita ein eigenes Zimmer in seiner Villa, zwei Kilometer von der Stadt entfernt, gegeben. Immerhin war sie seine Tochter und sollte sicher unterkommen. Ein prachtvolles Zimmer, das im Gegensatz zu ihren bisherigen Unterkünften alles in den Schatten stellte. Sie wunderte sich nicht weiter. Das baufällige Waisenheim, in dem sie ihre Kindheit verbrachte, hatte ihr recht gut gefallen. Sie erinnerte sich gerne an die lange Holztreppe und die großen Fenster, die in einem weißgrauen Rahmen saßen. An den Garten, der im Frühling voller Löwenzahn und zum Ende des Sommers von Pusteblumen übersät war.

Traurig legte sie eine Hand an die Fensterscheibe. Sie befand sich im zweiten Stock und erkannte lediglich die Betondächer der angrenzenden Gebäude. Kein Vergleich zu dem idyllischen Leben, das sie als Kind geführt hatte. Nun ja, sie war auch kein Kind mehr und obgleich sie sich immer gefragt hatte, wer ihre Eltern wohl seien, wünschte sie sich nun, diese Gedanken zu revidieren.

Ihre Fragen bezüglich Gians Verbleib blockte Giovanni harsch ab. So oder so saß sie nun allein in diesem riesigen Zimmer an einem Ort, der ihr fremder nicht sein könnte. Sie dachte, die Einsamkeit könne ihr nichts mehr anhaben, würde ihr nichts ausmachen, aber sie hatte sich getäuscht. Dieses kalte Gefühl, dass sich nicht nur über ihren Körper, sondern auch über ihr Innerstes legte, schien sie zu erdrücken.

Die Tür sprang auf und natürlich trat kein anderer als Giovanni herein. Als die Tür für ein paar Sekunden offen stand, erblickte Felicita zwei Wachposten im Flur. Was hatte sie auch erwartet? Natürlich würde er ihr niemals auch nur die Möglichkeit zur Flucht bieten. Wohin sollte sie auch? Nachdem sie von Gian getrennt wurde, wirkte alles so einsam und geradezu sinnlos. Sie vermisste ihn schmerzlich, ebenso die anderen aus der Arena, die ihr geholfen hatten.

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