Tenebris *aktualisiert

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21.

Fluchend und mit rudernden Armen versuchte Alainn, dass Gleichgewicht wieder zu erlangen, als ihr Fuß beinahe auf einer nassen Moosflechte den Halt verlor.

„Dieses dämliche Drecksloch!", brummte sie entnervt und sah sich mit zusammen gezogenen Augenbrauen um. Es fing bereits an zu dämmern. Dicke Nebelschwaden zogen vom Boden auf und hüllten die Stadt in einen gespenstigen Ort. Es war kälter geworden und Alainn fröstelte für einen Augenblick und zog ihre Jacke enger um sich. Die Straßen waren ausgestorben. Stille lag über den Ort. Unruhig sah Alainn sich um.

Rechts von ihr verlief der Teil einer alten Mauer. Zwischen den Steinen ragten Moos und Flechten hervor. Linker Hand von ihr standen verlassene Häuser mit vor Staub beschlagenen Fenstern und bröckeligen Fassaden. Die Stille lag wie der Nebel über den Gassen, setzte sich in jeder Ritze fest. Suchend drehte sich das rothaarige Mädchen um ihre eigene Achse. Dieser Teil der Stadt war ihr unbekannt. Irgendwo in dem Labyrinth der Stadt war sie falsch abgebogen, als sie den gestikulierenden Händen der Bibliothekarin gefolgt war, die ihr ausführlich Bericht über Allisons Weg nach dem Besuch in der Bibliothek erstattet hatte. Eine merkwürdige Frau befand Alainn, als sie sich an den hypnotisierten und an ihren, alles ergebenden Blick erinnerte. Neugierig war sie der Wegbeschreibung der Frau gefolgt. Und jetzt stand sie hier. Im schwachen Schein der untergehenden Sonne, umgeben von dicken Nebelschwaden und verlassenen Gassen, die im verschwinden des Lichts näher zusammen zu rücken schienen. Wütend knüllte sie den Stadtplan zusammen und warf ihn achtlos zu Boden.

„Verdammt, verdammt!", brüllte sie und schlug mit der Faust gegen die Mauer. Leise rieselten kleine Steinchen und weißer Mörtel herunter und der Boden gab ein dumpfes Grummeln von sich, das tief aus dem Inneren des Berges zu kommen schien. Sofort trat Alainn einige Schritte zurück. Wartete. Doch anstatt sich in Luft aufzulösen oder in sich zusammen zu fallen, blieb die Mauer stehen.

„Toll, und was mache ich jetzt?!" Das Krächzen eines Rabens schreckte Alainn auf und ihr Blick wanderte zu dem nahe gelegenen Wald. Wie eine unsichtbare Mauer umschloss er die Stadt, wobei Alainn nicht sagen konnte, ob sie die Menschen in der Stadt einsperrte oder die Gestalten in dem Wald aus. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Der Rabe flog krächzend über sie hinweg, setzte sich dann auf die Mauer und sah sie aus Kohleaugen an.

„Tsch!", machte das Mädchen und wedelte mit den Armen. Der Rabe blieb.

„Heute hatte ich eindeutig genug Aberglaube!", dachte Alainn und bedachte das Tier mit einem entnervten Blick. Mit schief gelegtem Kopf sah sie der Rabe aus klugen Augen an. Fast hypnotisierend wirkten sie. Auch wenn Raben längst Teil der Menschenwelt waren, gehörten sie doch ursprünglich in ihre Welt. Die magische Welt. Die Welt der Mythen und Legenden, in denen Raben stets Boten zwischen den Welten gewesen waren. Die ersten Seher dieser und jeder anderen Welt. Alainn unterdrückte ein Erschaudern, als die Krähenaugen sie ansahen. Ein Blick in die Seele, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Schritte. Sohlen, die über Steine schabten. Erschrocken wendete sie sich wieder der Gasse zu. Spähte in den Nebel. Erkannte nur die schwachen Umrisse einer Person. Sie huschte an die Hausmauer und drückte sich fest an sie. Kalt schmiegte sich die Hauswand an ihren Rücken. Leise griff sie nach einer rostigen Eisenstange. Finger um Finger umfassten die Stange lautlos. Die Schritte kamen näher. Es war bloß ein leises Geräusch, kaum wahrnehmbar. Die Schemen verdichteten sich zu schwarzen Umrissen, die mit jedem Schritt an Größe und Schärfe gewannen. Nur noch wenige Sekunden. Alainn hielt die Luft an. Ihr Herz pochte aufgeregt. Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Die Stange traf die Gestalt an der Schulter. Ein überraschter Schmerzenslaut hallte durch die Gasse. Sie wich dem Schlag aus, der abwehrend von der Gestalt ausgeführt wurde. Bückte sich einfach unter ihm hindurch und schlug erneut zu. Die dünne Stange vibrierte leicht, als sie den weichen Körper erneut traf. Summend bebte sie in ihrer Hand.

Officium #Wattys2016Where stories live. Discover now