Dicendum*aktualisierst

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14.

Majestätisch ragte der Wald vor ihnen auf. Undurchdringlich und hoch wie eine Burgmauer. Zwischen schwarzbraunen Stämmen herrschte Finsternis. Tannennadeln bildeten mit Baumskeletten ein festes Dach. Mit zusammengepressten Lippen starrte Alainn Namara auf die Waldgrenze. Steine sprangen unter ihren Sohlen hervor, als sie ihr Gewicht verlagerte. Das Schnattern von Polizisten, Schaulustigen und Sanitätern tönte über den Schotterparkplatz. Aber sie wusste, dass keine Stimme, kein Laut bis hinein in den Wald drang. Dort herrschte Stille. Stille und Finsternis. Ihre Augen fingen an zu tränen, so angestrengt blickte sie auf die Mauer des Waldes. Sie blinzelte.

 Das erste Mal hatte Alainn sie aufblitzten gesehen, als man sie auf einen der Plastikstühle verfrachtet hatte- wackelig standen die Stühle auf dem unebenen, steinigen Platz und bei jeder Bewegung befürchtete das Mädchen, dass die Flamingobeine der Stühle unter ihrem Gewicht wegbrechen würden. Sie knarrten wie eine knorrige Weide im Wind, als Alainn sich nach vorne lehnte. Ihr Körper fühlte sich an, als habe man sie in Eiswasser geworfen. Furcht war mit der Kälte in ihre Knochen gewandert und krallte sich seitdem fest. Sie hatte sie gesehen. Rote Augen. Rote Augen, die in der Schwärze des Waldes aufglommen wie Funken eines Feuers. Sie waren verschwunden. Doch von ihrem erhöhten Platz aus, sah Alainn, dass sie sich bewegten. Wie flirrende Glühwürmchen flammten hier, mal dort rot glühende Stecknadelköpfe im Wald auf, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Es war eine Warnung. Eine Drohung. Ob sie wohl von ihrer Angst wussten?

 „Miss Namara?", der junge Sanitäter näherte sich ihr vorsichtig. Setzte unsicher einen Schritt vor den Anderen. Seine Schultern waren eingesackt und er wirkte wie ein zusammengeknautschtes Papier. Sein langer, schlanker Körper hatte er mit seiner unterwürfigen Körperhaltung in sein kleinstes Format gezwängt. Alainn fragte sich, ob er wohl irgendwann einen Haltungsschaden davon bekommen würde und ob sein Rücken nicht schmerzen müsste. Doch sie sah ihn nur finster, mit vor der Brust verschränkten Armen, an.

 Der Pullover, in den man sie gesteckt hatte, warf tausende Falten und ließ ihren Körper wie einen Shar Pai, umgangssprachlich auch Faltenhund, wirken. 

„Wir.. wir konnten.. noch immer nicht ihre Mutter erreichen...", er redete stockend. Alainn musste sich zu ihm vor beuge, um seine piepsende Stimme durch das Stimmengewirr im Hintergrund zu verstehen. 

„Arbeitet sie nicht im gleichen Krankenhaus?"

„Do-och!", der Sanitäter schaute unsicher hinter sich. Suchte dort jemand, der ihm Sicherheit in der Aussage geben konnte. „Haben nicht alle Ärzte Piepser?", er zwang sich sie anzusehen. Seine blassbraunen Augen sahen auf ihre durchgeweichten Sportschuhe und die auf den Boden schleifende, ebenfalls viel zu große Jogginghose. Er blickte auf die Steine unter seinen Schuhen, auf den Wald, auf ihre Arme und Beine, aber niemals in ihr Gesicht. Er fürchtete sie. 

„Ja", murmelte er. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Er wich zurück. Doch sie war schneller. Ihre Hand bohrte sich in seinen knochigen Arm. Sie spürte die Knochen und die Sehnen und Muskeln unter ihrem Griff. Er war so knochig, dass sie am liebsten vor ekel losgelassen hätte.

 „WO. IST. MEINE. MUTTER?!", scharf schnitt ihre Stimme durch die Luft. Alainn roch seine Furcht. Sie roch den süßlich herben Geruch seines Schweißes. Was machte ihm Angst? „ Ich.. ich... wei- iß es nicht. wirklich!!", Alainn baute sich vor ihm auf. Der Sanitäter zuckte zusammen. Hob die Hände abwehrend. Ganz so, als hätte sie vorgehabt ihn zu schlagen. Verwirrt und überrascht trat Alainn zurück.

 „Bi- bitte..", stammelte der Sanitäter und hob den Kopf. Alainn starrte ihn an. Fixierte die flimmerte Oberfläche vor seinem Gesicht. Milchige Augen sahen sie unterwürfig an. Jetzt nahm sie den Verwesungsgeruch wahr, der an ihm haftete. 

„Bitte..meine Eltern hatten es verdient zu sterben.. aber ich..ich halte mich an die Regeln. Nur.. nur Tote. Ich gehöre nicht dazu..", der Ghul sah sie von unten herauf an mit dem Gesicht eines Ghuls und dem schlacksigen Körper eines Jungen. Alainn hatte noch nie durch einen Zauberschleier sehen können. Wer seine menschliche Gestalt annahm, war menschlich. „Okay. gut!", sagte sie gedehnt. Lautstark atmete der Ghul aus. Erleichterung zeigte sich auf seinem Gesicht. Alainn blinzelte, fuhr sich mit der Hand über die Augen. Starrte auf die Brandwunde. Den Baum. Erst dann sah sie den Ghul an.

 Er hatte ein menschliches Gesicht. Verwirrt wanderten Alainns Augen vom Ghul zurück zu dem Brandmal. Der Ghul wand sich ab. Nutze ihre Verwirrtheit aus und eilte von ihr weg. Er war schon einige Meter weit gehastet, als sie ihm zurief: „Darf ich trotzdem nach Hause?", beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen, als habe sie ihm geschlagen. Ängstliches Kerlchen, dachte Alainn, während sie ihm dabei zusah wie er von ihr weg hastete. Versuchte so viele Meter und Personen zwischen sich und Alainn zu bringen. „ich fürchte nicht!", neben ihr zeichnete sich die massige gestalt von James Meison ab. „Warum nicht?"

„Vorschriften!", brummte er. Sie bemerkte seine Blicke, die zwischen dem Ghul und ihr hin und her wanderten. „Nervöses Kerlchen, huh?", fragte Alainn den Polizeichef. Aus den Augenwinkel sah sie, wie sich die Falten um seine braunen Augen eingruben. „Ist mir bis jetzt nicht aufgefallen!", Alainn hörte die Frage in seiner Stimme. Erwachsene hatten diese Art, dass eine zu sagen und nach etwas anderem zu fragen beziehungsweise etwas anderes zu unterstellen. Alainns Mutter war darin Profi und das Mädchen erkannte diese getarnten harmlosen Sätze, als das, was sie waren. „Meine Mutter ist verschwunden. Wollen sie mich hier etwa für unbestimmte Zeit festhalten?"

„Sie müssen mich verstehen", James Meisons Stimme wurde weicher, einschmeichelnder. Alainn schnaubte abfällig. Wen glaubte er hier vor sich zu haben? Einen verängstigten Teenager? Sie wand sich ihm zu. Trotzig die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen leuchtend vor Angriffslust:" ich kann sie ihres eigenen Schutzes wegens nicht alleine Nachhause lassen. Schließlich läuft ein Mörder frei herum!"

„Ich habe keine Angst!", sie schob ihr Kinn trotzig vor. „Ich kann Sie nic-"

„Sie können! Sie wollen nur nicht!"

„Ihres Schutzes wegen!"

„Ich habe keine Angst!"

„Da fragt man sich doch, warum!"

„verdächtigen Sie mich?! Ernsthaft?! Was fällt Ihnen ei-"

„Aber, aber!", ein großer Mann schob sich zwischen sie. Seine obsidianschwarzen Augen sahen beide Parteien weich und freundlich an:" ich verstehe, dass die Gemüter sich an einen solchen Tag schnell erhitzen. Es war ein anstrengender Tag für alle", Nicholas Wilson sah James Meison durchdringen und mit einem bedeutungsvollen Blick an:" Wie wäre es mit einem Kompromis?" Stille. Zornig starrte Alainn auf den Boden. Sie hörte James Meison zustimmend grunzen. 

„Alainn kommt mit mir und den Jungen nach Hause. Dort kann Alainns Mutter sie abholen. Es wäre eine schlechte Idee Alainn noch weiter der Kälte auszusetzten." 

Alainn wollte nicht mit Nicholas Wilson gehen. Aber sie wollte auch nicht hierbleiben. Auf diesem Platz, wo der Wald sie mit Argusaugen beobachtete und ihre kalte Eisschauer den Rücken hinunter liefen. Alainn wollte zu ihrer Mutter. Sie wollte hören und sehen, dass es ihr gut ging. Sie wollte, dass das Chaos in ihrem Kopf aufhörte. und sie wollte Allisons Gesicht nie wieder sehen. Dennoch tauchten ihre leblosen grauen Augen dauernd vor ihrem Inneren auf.

 „Also gut!", murrte sie. Alles war besser, als hierzubleiben.

Ein letztes Mal drehte sie sich zum Wald um. Sie stockte, als sie zwei rotglühende Augen durch die Bäume schimmern sah. Angst pflanzte sich wie ein Ohrwurm in ihren Kopf und spielte immer und immer wieder die gleiche schrille, angstvolle Melodie. Alainn dachte an ihre Mutter. Ihre Mutter, die verschwunden war. Sie dachte, an die tote Allison, die in einem schwarzen, verkrumpelten Leichensack lag und ihr Herz flatterte wie die Flügel eines Kolibris, als sie an die Zukunft dachte. Wenn es eine gab, dachte sie bitter.

Officium #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt