49; Teil 3: Sommer 2008

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Marie

Ich glaube, wenn Christian nicht gewesen wäre, hätte ich mich umgebracht. Nicht, weil ich so verzweifelt und traurig war und mir schwere Vorwürfe machte. Es hätte auch nicht daran gelegen, dass ich es zutiefst bereute, meine Mutter nicht noch einmal umarmt zu haben und ich meinen Vater gleichzeitig hasste und bemitleidete.

Der Grund, warum ich mich umgebracht hätte, war, dass ich auf einmal eine panische Angst vor dem Leben hatte. Ich hatte Angst davor, zu versagen, weshalb ich es vermied, mir auch nur irgendwelche Stellenbeschreibungen anzusehen. Ich hatte Angst, Menschen zu begegnen oder mit ihnen Kontakt zu haben. Angst, dass wenn ich die Wohnung verließe, sie nachher nicht mehr da sein würde.

Wenn ich morgens aufwachte hatte ich Angst, dass der Tag irgendetwas Schlimmes bringen würde und wenn es ein lautes Geräusch gab, sah ich meine Mutter wie sie auf dem Boden stürzte und meinen Vater wie er nicht aufhörte, auf sie einzuschlagen.

Das Einzige, wovor ich keine Angst hatte, war Christian.

Ich weiß nicht warum. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns schon so lange kennen und ich weiß, dass er mir nie wehtun würde. Jedenfalls ist es sein Verdienst, das ich heute wieder arbeite und zwei sehr nette Bekannte gefunden habe.

Dadurch, dass Christian mich nie zu irgendetwas gedrängt hat, sich Zeit für mich genommen hat – zumindest an den Wochenenden – und mir stets das Gefühl gegeben hat, dass ich bei ihm sicher bin, mir hier nichts geschehen wird und dass, selbst wenn die Welt untergeht, er für mich da sein wird, kann ich jetzt wieder ein einigermaßen normales Leben führen.

Aber ich weiß, dass dies nur möglich war, indem ich die Vergangenheit radikal hinter mir gelassen habe.

So hat es nicht lange gedauert, bis ich meine Handynummer geändert hatte, da ich die Anrufe und Nachrichten von meiner Tante, Mark, einigen Freundinnen und Arbeitskollegen nicht mehr ertragen habe.

Ich wollte nicht mit ihnen reden, weil das bedeutet hätte, dass ich sie entweder anlügen oder über das Vorgefallene reden müsste. Beides wollte ich nicht.

Außerdem erinnerten mich meine Tante und Mark zu sehr an etwas, was ich mir doch so sehr wünschte, zu vergessen und hinter mir lassen zu können.

Vor allem der Gedanke an Mark zerbrach mein Herz. Ich hatte mit Christian Schluss machen wollen. Endgültig. Ich hatte mich so schuldig gefühlt, weil ich mich zuerst nicht zu diesem radikalen Schritt entschieden hatte.

Aber dann.

Das mit meinen Eltern hat alles verändert.

Es war Christian, der sich in dieser Zeit um alles gekümmert hat: Er hat meinen Mietvertrag in München sowie meine Stelle bei der Süddeutschen Zeitung gekündigt. Ich musste nur noch unterschreiben. Es tut gut, jemanden zu haben, der einem den Ballast von den Schultern nimmt. Christian ist so jemand.

Nicht einmal hat er mich aufgefordert, wieder zu arbeiten. So hatte ich fast ein Jahr Zeit, um alles, was passiert war, zu verarbeiten. Ich bin Christian zu mehr als nur Dank verpflichtet. Er hat mich wieder mit seiner diskreten, geduldigen und ruhigen Art aufgebaut.

Zu ihm zu gehen, war vielleicht das einzig Richtige, was ich je in meinem bisherigen Leben getan habe. Wäre ich in München geblieben, weiß ich nicht, was geschehen wäre.

Aber es wäre nie so glimpflich ausgegangen. Wie hätte Mark, dessen Sorgen sich darauf beschränken, ob man die nächste Prüfung besteht oder nicht, mir je ein Beistand für diese Tragödie sein können? Es wäre mehr als niederschmetternd gewesen, ihm davon zu erzählen und dann mit ansehen zu müssen, wie er um die richtigen Worte ringt.

Er hätte alles richtig machen wollen und gerade dadurch hätte er versagt. Es gibt keine Worte, die man sagen könnte, um Zuversicht und Mitgefühl auszudrücken. Und selbst Umarmungen wären nicht genug. Mark wäre gescheitert und ich hätte es nicht ertragen, ihn scheitern zu sehen.

Einer Katastrophe ist weder mit Worten noch mit Taten bei zu kommen. Man muss sie für sich allein irgendwie überleben, ohne ganz daran zu zerbrechen.

Am liebsten würde ich meine komplette Vergangenheit löschen. Alles Erlebte aus meinem Gedächtnis ausradieren, um wieder ein weißes Blatt zu sein.

Wie gerne würde ich noch einmal ganz von vorne anfangen. Ein neues, ein besseres Leben beginnen.

Eines, in dem ich nichts falsch mache, niemanden verletze, niemanden im Stich lasse und niemanden verliere, der mir etwas bedeutet.

Stille WasserTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon