46; Teil 3: Sommer 2008

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Mark

Es ist genau ein Jahr her, seit Marie ausgezogen ist und mich verlassen hat. Ohne irgendeine Erklärung. Ich kam am späten Nachmittag von der Uni nach Hause und merkte gleich als ich den Flur betrat, dass irgendetwas nicht stimmte. Maries Schuhe, die sonst fast den ganzen Flur bedeckten, waren verschwunden. Auch ihre Jacken, die immer an der Garderobe gehangen hatten, waren fort. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit.

Ich rief ihren Namen und ging in ihr Zimmer. Die Möbel standen noch da wie immer. Auch das Bett, in dem wir noch am selben Morgen gemeinsam aufgewacht waren, Marie in meinem Arm liegend, das lange Haar von der Nacht noch zerzaust, sah noch genauso unordentlich aus, wie wir es verlassen hatten.

Doch die Schränke und Kommoden waren leer. Die Bilder, die auf dem Nachtisch gestanden hatten, waren weg.

Nur noch Maries Duft hing in der Luft. Sonst ließ nichts mehr darauf schließen, dass sie hier je gelebt hatte. Dann entdeckte ich den Hausschlüssel auf einem der Regale. Mit schwachen Knien setzte ich mich aufs Bett und starrte den Schlüssel an. Ich rekapitulierte den Morgen, unseren letzten Abend, die letzten Tage und die vergangenen Wochen.

Mir fiel nichts auf. Nichts, was mich hätte misstrauisch machen oder mich auch nur irgendwie auf das vorbereiten hätte können, was mir an jenem Tag widerfahren ist.

Marie war gegangen, ohne sich zu verabschieden, ihr Verhalten zu begründen oder auch nur die kleinste Nachricht zu hinterlassen.

Die Versuche, sie auf ihrem Handy anzurufen, blieben erfolglos. Auf meine Nachrichten antwortete sie nicht. Sie war wie vom Erdboden verschwunden.

Erst Tage später, als Mama mich anrief, erfuhr ich, dass Marie zu Christian gezogen war. Ich hatte zwar schon irgendwie damit gerechnet, aber es traf mich dennoch wie ein Schlag. Natürlich tat ich so, als hätte ich das bereits gewusst und als wäre Maries Wegzug kein Schock für mich, sondern als würde ich mich für sie freuen.

Nach dem Telefonat war ich fix und fertig. Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum war Marie zu Christian zurückgekehrt, nachdem sie doch vor einem Jahr mit ihm Schluss gemacht hatte? Oder hatte sie überhaupt nicht mit ihm Schluss gemacht? Hatte sie mich die ganze Zeit nur verarscht? Vielleicht.

Es würde immerhin erklären, warum sie nie mit zu mir nach Hause gehen wollte. Sie meinte damals, dass es noch zu früh dazu sei. Aber vielleicht hatte sie einfach nur nie mit diesem Scheißkerl Schluss gemacht. Kein Wunder, dass Mama auch nie davon sprach, dass Christian wieder Single sei oder sich Marie und er sich getrennt hätten. War also alles nur eine große Lüge gewesen?

Aber warum hätte Marie mich so brutal anlügen sollen?

Mit solchen Fragen verbrachte ich den restlichen Sommer und den ganzen Herbst, ohne eine Antwort zu finden. Irgendetwas musste passiert sein, von dem ich nichts mitbekommen hatte. Irgendetwas musste mir entgangen sein.

Aber so viel ich auch nachdachte, ich kam nicht darauf, was es war. Ich hatte verschiedenste Theorien, aber keine schien mir letztlich zufrieden stellend. Als sich eine schlaflose Nacht an die andere zu reihen begann, ich nichts mehr essen konnte und nicht mehr kapierte, was der Professor redete, gab ich das Nachdenken auf und stürzte mich in mein Studium, um zumindest das letzte zu behalten, was in meinem Leben noch Bedeutung besaß.

Und dann kam Weihnachten.

Das erste Weihnachten, das wir ohne Christian verbrachten, da er mit Marie in Potsdam feierte, wie er am Telefon Vater erzählt hatte. Obwohl sich ein Kindheitstraum von mir nun erfüllt hatte, konnte ich mich nicht darüber freuen.

Im Gegenteil: Die Vorstellung, wie Marie und Christian in ihrer modernen, schicken Wohnung saßen und ihre Geschenke unter einem riesigen Weihnachtsbaum auspackten, bereitete mir Übelkeit. Meine Eltern nahmen es erstaunlich locker, dass ihr Mustersohn Weihnachten fern von ihnen verbrachte, und redeten andauernd davon, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, nächstes Jahr vielleicht mit dem ersten Enkelkind wieder gemeinsam feiern zu können. Ich hätte kotzen können.

Es waren die schlimmsten Weihnachten meines Lebens und ich frage mich immer noch, wie ich sie einigermaßen unbeschadet überleben konnte. Aber irgendwie vergeht ja letztlich doch jeder Schmerz oder wird zumindest erträglicher und ich nahm mir vor, im neuen Jahr mit Marie abzuschließen. Das gelang mir mit Hilfe einiger kurzweiliger Frauenbekanntschaften ganz gut, wenn auch die Leere, die Marie in mir hinterlassen hatte, nicht verschwand.

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Triggerwarnung: Im nächsten Teil geht es um häusliche Gewalt und Tod.

Stille WasserWhere stories live. Discover now