40; Teil 2: Sommer 2006

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Marie

Christian und ich haben uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. Und ich war froh darum, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wie ich ihm nach all dem, was geschehen war, begegnen sollte. Dennoch war klar, dass wir uns irgendwann wieder sehen mussten. Immerhin waren wir trotz allem noch ein Paar.

Christian hatte mich die letzten paar Telefonate gedrängt, zu ihm nach Berlin zu kommen. Irgendwann habe ich nachgegeben und mir ein Zugticket gekauft. Und so stand ich Christian vor drei Tagen am Bahnhof Zoo gegenüber. Ich war überrascht, wie gut er aussah. Beinahe hatte ich diese Tatsache schon vergessen. Sein braunes, glänzendes Haar war kurz geschnitten, was ihm gut stand. Seine braunen Augen, die ihn trotz aller Unterschiede als Marks Bruder zu erkennen gaben, blickten mich strahlend, wenn auch ein wenig müde, an.

Er trug eine graue Stoffhose und ein hellblaues Hemd. Sicherlich kam er gerade von einem Termin mit irgendeinem wichtigen Menschen.

Irgendein wichtiger Mensch, wie es so viele für Christian gibt. Alle scheinen sie immer wichtiger als ich zu sein. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Schlag in den Bauch versetzt bekommen. Dabei dachte ich, ich hätte damit abgeschlossen, mich unwichtig und bedeutungslos in seinem Leben zu fühlen. Ich fragte mich, wie ich all die Jahre in der Vorstellung unersetzbar und kostbar zu sein, hatte leben können.

Doch als Christian mir dann einen riesigen, wunderbar duftenden Blumenstrauß entgegenhielt, mir meinen Koffer abnahm und mich minutenlang in seinen starken Armen hielt, da wusste ich wieder, wie leicht es bei Christian war, in einer Traumwelt zu leben. Beinahe wäre ich wieder schwach geworden.

Doch gleich am nächsten Tag meiner Ankunft musste er für ein paar Stunden ins Büro. Nicht einmal in der einen Woche, die wir seit vielen Monaten miteinander verbrachten, war es ihm möglich, seine ganze Zeit nur mit mir zu verbringen. Früher wäre ich sicherlich traurig gewesen, hätte aber darüber hinweggesehen, da ich wusste, wie wichtig Christians Karriere für ihn ist.

Nun war ich aber weder traurig noch sah ich über sein Verhalten hinweg. Tatsächlich war ich sogar erleichtert. Denn wäre Christian anders gewesen, hätte ich möglicherweise ein schlechtes Gewissen bekommen. So aber konnte ich sorgenfrei mit Mark telefonieren, während Christian bei irgendwelchen Terminen war, die leider, leider nicht zu verschieben waren.

Aber wie gesagt, mir machte es nichts mehr aus.

Ich setzte mich, wenn ich allein war, auf den großen Balkon von Christians Wohnung, schaute über die laute, hässliche Stadt und fühlte mich gut, weil ich Marks Stimme hören konnte. Seine ruhige, tiefe Stimme, die mir immer gut zuspricht, die mir sagte, wie sehr ich vermisst würde und dass ich schnell wieder kommen solle.

Und am liebsten wäre ich auch sofort in den nächsten Zug gestiegen und wieder zurück nach München gefahren. Denn ich gehörte nicht nach Berlin und auch nicht mehr zu Christian. Ich spürte es an meiner Abneigung gegenüber der Stadt, an dem Unwillen, mich von Christian berühren zu lassen und an dem alleinigen Wunsch, die Woche möge schon vorbei sein, sodass ich wieder nach München und zu Mark zurückkehren könnte.

Während ich alleine auf dem Balkon saß, das Handy auf meinem Oberschenkel liegend, mit dem ich eben noch mit Mark telefoniert hatte, fragte ich mich, ob es Christian genauso gehen würde wie mir. Ob er auch erleichtert und froh wäre, wenn ich wieder fort wäre und er sich wieder seiner anderen Freundin widmen könnte.

Falls das der Fall gewesen sein sollte, merkte man es ihm jedenfalls nicht an. Wenn er mal Zeit für mich hatte, behandelte er mich wie eine Prinzessin. Erst gestern hat er mir ein sündhaft teures Kettchen gekauft. Dabei wollte ich es nicht einmal haben, aber er hat darauf bestanden, weil er meinte, dass ich das Kettchen so lange im Schaufenster angeschaut hätte, dass ich nicht sagen müsste, dass ich es wollen würde, sondern er mir den Wunsch in den Augen ablesen könnte.

Mir war überhaupt nicht bewusst, dass ich dieses Kettchen ungewöhnlich lange angeschaut habe. Aber nun habe ich es und werde es nicht mehr los.

Christian hat viel Geld dafür ausgegeben und jeder Versuch, ihn von dem Kauf abzuhalten, machte ihn nur noch entschlossener. Als er das Kettchen stolz in seinen Händen hielt, legte er es mir auch gleich um. Jeder Protest meinerseits verlief ins Leere. Also behielt ich es eben und trage es nun beklommen an meinem Hals. Letztlich ist es nur ein Gegenstand, nur eine Belanglosigkeit.

Viel wichtiger war es, die richtigen Worte zu finden, um Christian zu verlassen.

Ihn verlassen.

Sie sind seltsam diese zwei Worte. Neun Jahre sind Christian und ich zusammen. Das ist eine lange Zeit. Und wir haben so viel zusammen erlebt. Auch wenn es nicht immer schöne Dinge waren, war ich doch lange Zeit sehr glücklich mit ihm. Er war die Welt für mich und ich dachte, ich wäre dasselbe für ihn.

Aber ich habe mich getäuscht. Ich kann den Mann, mit dem ich einmal den Rest meines Lebens verbringen wollte, nicht mehr sehen. Stattdessen sehe ich nur noch einen gutaussehenden, erfolgreichen Mann vor mir stehen. Einen von vielen.

Gestern Abend hat Christian für mich gekocht. Er hat Lasagne gemacht, mein Lieblingsessen. Er stand in der Küche, trug eine beigefarbene Stoffhose und dazu ein schwarzes Hemd, das er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte.

Es war ein schönes Bild, wie er am Herd stand, das Radio lief und er mir eine lustige Geschichte erzählte. Obwohl ich mit ihm gelacht habe, fragte ich mich im selben Moment, ob er auch für seine Geliebte so kochte wie für mich und ob sie ihn auch gerne dabei betrachtete. Wahrscheinlich war die Antwort auf diese Frage ein Ja. Christian ist ein wunderbarer Koch und er sah so gut aus, wie er hinter dem Herd stand in seinen schicken Klamotten.

Ohne es zu wollen, stellte ich in meinem Geist Mark und Christian nebeneinander. Die beiden sind wirklich zwei ausgesprochen schöne Menschen, die aber unterschiedlicher nicht sein könnten: Christian hat eher eine ernste, reife Art, die zu seinem eleganten und vielleicht ein bisschen spießigen Stil passt. Mark hingegen hat so etwas Unbeschwertes, Leichtes. Meistens trägt er verwaschene Jeans, graue oder schwarze Kapuzenpullis, die ihn noch jünger erscheinen lassen, als er eigentlich ist. Nicht zu vergessen sein Haar. Das einfach immer aussieht, als wäre es mit Absicht so unverschämt sexy verwuschelt.

Ich vermisse Mark. Ich hoffe, mir werden bald die richtigen Worte einfallen, um diese Farce mit Christian zu beenden. Immerhin läuft mir die Zeit davon. Ich möchte nicht am Telefon wie ein unreifer Teenager mit Christian Schluss machen. Aber was sind die richtigen Worte, um jemanden zu verlassen, mit dem man seit neun Jahren zusammen ist?

Von seiner Geliebten kann ich nicht anfangen, da ich offiziell nichts von ihr weiß. Ihm von Mark zu erzählen, wäre mehr als eine Katastrophe. Also muss ich mir irgendetwas einfallen lassen, was ihn nicht zu sehr verletzt. Denn trotz allem will ich ihm nicht weh tun, auch wenn er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, mich jahrelang anzulügen und mir zu sagen, dass er mich liebte, mir dabei in die Augen sah und am nächsten Tag vielleicht schon mit einer anderen Frau schlief.

Stille WasserWhere stories live. Discover now