1; Teil 1 : Sommer 2001

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Mark

Dieses Wochenende bringt Christian zum ersten Mal seine neue Freundin mit nach Hause. Mama ist die ganze Woche schon total aufgeregt deswegen. Heute Morgen war sie stundenlang einkaufen, damit sie unserem unbekannten, aber freudig erwarteten Gast auch etwas Anständiges zu essen kochen kann. Mama übertreibt bei so etwas gerne. Andererseits kann sie wirklich super gut kochen und ich freue mich schon jetzt auf das Essen. Und ich verstehe auch, dass dieser Besuch etwas Besonderes für sie ist. Immerhin bringt mein ach so kluger und toller Bruder endlich mal ein Mädchen mit nach Hause.

Ich glaube, Mama hat schon Sorge gehabt, ihr ältester Sohn hätte kein Interesse an Mädchen. Für Mama wäre das vielleicht eine Enttäuschung gewesen, aber mein Vater wäre bestimmt ausgerastet. Natürlich hat er nichts gegen Homosexuelle – solange es nicht die eigenen Kinder sind, die aus der Reihe tanzen und sein perfektes bürgerliches Leben in aller Öffentlichkeit mit ihrer sexuellen Einstellung beflecken. Mein Vater ist ein ewig Gestriger. Und dazu noch ein Choleriker. Zumindest zuhause.

Gegen Nachmittag klingelt es an der Haustür. Gelassen bleibe ich im Wohnzimmer sitzen, wie immer nicht bereit nach Christians Regeln zu spielen. Natürlich hat er einen Schlüssel für das Haus, aber den benutzt er nie. Christian will begrüßt werden. Er will, dass andere zu ihm kommen. Dass ihm die Türe geöffnet wird und er die volle Aufmerksamkeit hat. Er ist ein Wichtigtuer. Das war er schon immer. Bei meinen Eltern zieht das vielleicht. Bei mir bestimmt nicht.

Mama, die die ganze Zeit am Küchenfenster Ausschau gehalten hat, öffnet die Tür. Ich höre wie sie freundlich Christian und seine Freundin begrüßt. Ich stelle den Ton meines Playstationspiels leiser, um besser lauschen zu können, was an der Haustüre geredet wird.

Wie wird Christians Freundin wohl sein? Bestimmt ist es eine, die noch nie einen Freund gehabt hat. Ich tippe auf ein graues Mäuschen, das Christians zugleich stundenfüllendem wie langweiligem Gerede über Politik mit großen Augen bewundernd zuhört.

Angestrengt versuche ich zu hören, was das unbekannte Mädchen sagt. Aber ich kann sie einfach nicht verstehen. Im Gegensatz zu Mama und Christian redet sie so leise, dass ich nicht mal die Tonlage ihrer Stimme erahnen kann. Bei einer grauen Maus wohl auch kaum anders zu erwarten. Christian ist so vorhersehbar.

Dann höre ich Schritte Richtung Wohnzimmer kommen. Es sind Christians laute Elefantenstapfen und dann noch leise Schritte. Dann sehe ich Christians Visage im Türrahmen, doch ich habe kaum einen Blick für sein überhebliches, triumphales Grinsen.

Denn neben ihm steht sie.

Wow!

Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Von wegen grauer Maus. Neben Christian steht ein super hübsches Mädchen. Sie trägt schwarze Sandalen, eine kurze Jeans, ein schwarzes Top und unglaublich viele Ketten und Armreife. Ihr hellblondes Haar ist zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Blonder Pony liegt ihr locker auf der Stirn und einige Strähnen umrahmen ihr ovales Gesicht. Ihre blau-grauen Augen strahlen mich an und ihr geschwungener, erdbeerroter Mund ist zu einem wunderschönen Lächeln geformt. Ihre Haut ist von der Sommersonne golden gebräunt und ich entdecke voller Staunen ein Henna-Tattoo, das von ihrer linken Hand bis zu ihrem Ellbogen reicht.

Wie zum Teufel kommt mein spießiger, arroganter und unerfahrener Bruder an so eine Frau? Er, der, zugegeben nicht so übel aussieht, aber bei weitem nicht auf einer Stufe mit diesem Engel steht!

Ich bin so baff, dass ich erst mal nicht reagiere, als dieses Zauberwesen mir ein sanftes „Hallo" zuwirft.

„Was ist los, Mark? Hast du auf einmal alle deine Manieren verlernt? Willst du mein Mädchen denn nicht begrüßen?" Christian schaut mich belustigt und herablassend zugleich an.

Stille WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt