9; Teil 1: Herbst/Winter 2001

18 7 2
                                    

Marie

Es war so klar, dass dieses Weihnachten ein Desaster werden würde. Weihnachten ist schon immer explosiv bei uns gewesen. Aber dieses Jahr war es besonders schlimm. Mama und Papa haben nur gestritten. Es gab Geschrei und unzählige Tränen. Ständig wurde von mir verlangt, eine Seite zu wählen. Dabei tun sie mir doch beide leid. Und beide habe ich lieb. Wie könnte ich je zwischen ihnen wählen? Es war ein einziger Albtraum für mich.

Ich habe lange überlegt, wann ich meinen Eltern sage, dass ich den Zweiten Weihnachtsfeiertag nicht mit ihnen verbringen würde. Da ich erst an Heiligabend nach Hause kam, habe ich ihnen an diesem Tag nichts erzählt. Ich habe stattdessen Mama beim Kochen geholfen, ihr zehntausend Mal versichert, dass sie gut aussehe und das Essen keine Katastrophe sei. Ich habe Papa dazu bringen können, nur eine Flasche Wein allein zu trinken, zumindest bis Mama und ich schlafen gegangen waren. So gesehen war Heiligabend eigentlich eines der besten bisher.

Am Tag danach wurde ich durch das Geschrei meiner Eltern um neun Uhr morgens geweckt. Papa hatte bestimmt noch mehr getrunken nachdem Mama und ich im Bett waren. Dann war er sicherlich wieder mal auf der Couch eingeschlafen, vielleicht hatte er auch Wein auf den schönen weißen Teppich verschüttet und nachdem Mama nun aufgewacht war, hatte sie das Chaos im Wohnzimmer gesehen und war wütend geworden. Meine Mama hasst Unordnung. Wenn ich meine Schuhe ausziehe und nicht nebeneinander stelle, schreit sie mich erst an, dann weint sie, weil sie mich nicht anschreien wollte.

Ich tröste sie, wenn sie weint und ihre Schuldgefühle sie beinahe auffressen. Immerhin ist sie meine Mama und trotz allem liebe ich sie. Aber Papa reagiert in solchen Situationen anders. Er fängt an, Mama auch anzuschreien und wenn sie nicht rechtzeitig mit ihrem eigenen Geschrei aufhört, wird er grob. Richtig grob. Und gefährlich. Manchmal auch zu mir. In diesen Momenten hasse ich ihn. Und ich weiß, er hasst sich danach auch. Warum können Mama und Papa nicht einfach lassen, was sie selbst an sich nicht mögen? Wie kann man nur so schrecklich zu Menschen sein, die man doch liebt? Es ergibt einfach keinen Sinn für mich.

Bevor es auch dieses Mal so weit kommen konnte, stand ich schnell auf und folgte dem Lärm. Die beiden standen im Wohnzimmer. Mama in ihrem schönen grünen Satinmorgenmantel, den ihr Papa vor langer Zeit gekauft hatte. Papa stand noch in denselben Klamotten da, die er auch am Tag zuvor getragen hatte. Tatsächlich fanden sich einige rote Flecken auf dem Teppichboden und auf dem kleinen Couchtisch standen offene Chipspackungen und die Reste einer Tiefkühlpizza.

Wie hätte ich an einem Tag, der so begann, ihnen sagen sollen, dass ich am nächsten Tag wieder gehe? Wie könnte ich bei solchen Eltern je Weihnachten woanders verbringen, ohne Angst zu haben, dass die beiden sich etwas Schlimmes antun?

Ich dachte einen Moment an Christian und wie er im selben Moment bei sich zuhause sicherlich noch schlief. In diesem wunderschönen Haus mit zwei Eltern, die sich gut behandelten und schätzten, und einem kleinen Bruder, der mir kurz vor Weihnachten ein kleines Paket mit Schokolade und einem Buch nach Hamburg geschickt hatte. Der Gedanke war zu schwer zu ertragen. Also verscheuchte ich ihn und versuchte, eine Harmonie zwischen meinen Eltern herzustellen. Es war ein Kampf den ich gewann, aber den Krieg würden wir wahrscheinlich verlieren.

Der Tag verlief anschließend ruhig und ohne weitere Vorfälle. Als ich am Abend im Bett lag und den gedämpften Stimmen aus dem Fernseher lauschte, suchte ich verzweifelt nach einer Lösung, wie ich meinen Eltern einigermaßen behutsam beibringen könnte, dass ich am nächsten Tag nach Hamburg fliegen würde. Nach langem hin und her Wälzen, muss ich irgendwann eingeschlafen sein und erst mein Wecker riss mich aus unruhigen Träumen. Mama war schon wach und hatte Frühstück gemacht. In vier Stunden würde mein Flieger gehen und so erzählte ich ihr, während wir gemeinsam Pfannkuchen aßen, dass ich nach Hamburg fliegen würde. Wegen ihres völligen Unverständnisses dafür fügte ich noch als Erklärung hinzu, dass ich seit einiger Zeit einen Freund hatte, den ich dort treffen würde.

Ich weiß nicht, was genau ich nicht hätte sagen sollen, aber irgendetwas brachte sie zum Ausflippen: Sie nannte mich eine schlechte Tochter, warf mir vor, sie belogen zu haben und meinte, mein sogenannter Freund würde mich überhaupt nicht wirklich lieben. Irgendwann kam Papa in die Küche und schnauzte Mama an, was nun schon wieder los sei.

Ich versuchte, ihm darauf zu antworten, aber Mama überschrie mich einfach und ich merkte an Papas Augenausdruck, dass ihm nicht gefiel, was er hörte. Obwohl Papa ein herzensguter Mensch ist, denkt er immer noch, ich wäre sein kleines Mädchen, das keinen anderen Mann als seinen Papa liebt. Er anerkennt nicht, dass ich eine erwachsene Frau bin, die selbst für sich entscheiden kann, was richtig ist und was nicht. Dementsprechend war seine Reaktion.

Eine halbe Stunde später saß ich mit hektisch gepackten Koffern im Bus zum Flughafen.

Zumindest stritten sich meine Eltern nun nicht mehr, sondern regten sich zusammen über mich auf.

Mein einziger Lichtblick war Christian, den ich am Bahnhof abholte. Ich hoffte, dass ich nicht allzu verheult aussehen würde, weil ich doch für ihn hübsch ausschauen wollte. Andererseits würde er dann vielleicht fragen, was los sei und ich könnte mit jemanden über den ganzen Mist reden.

Aber er fragte nicht und so blieb ich still.

Wir liefen Arm in Arm zum Bus und fuhren zu meiner Wohnung, die ich zur Untermiete genommen hatte. Während der Fahrt dachte ich daran, wie sehr ich mich auf die Zeit mit Christian in Hamburg gefreut hatte und wie schön sie in meiner Vorstellung gewesen war. In der Realität aber fühlte ich mich einfach nur beschissen und hasste meine Eltern dafür, dass sie mir nun die kostbaren zwei Wochen mit meinem Freund verdorben hatten.

In der Tat wurde die Zeit in Hamburg zu einer einzigen Farce. Ich habe wirklich versucht, die Gedanken an zuhause zu verdrängen, aber es ging nicht. Dementsprechend angespannt war die ganze Zeit die Stimmung zwischen Christian und mir. Ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass diese zwei Wochen für uns beide eine einzige Tortur waren. Aber ich weiß nicht, was ich hätte anders machen sollen.

Stille WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt