57; Teil 3: Sommer 2009

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Christian

Marie und ich fahren sehr selten zu meinen Eltern. Wir haben so viel zu tun mit unserer Arbeit, Treffen bei Freunden und seit neuestem auch mit unserem Hausbau, dass die Zeit meistens nicht ausreicht, um ein Wochenende dorthin einzuplanen.

Dennoch ist es uns letztes Wochenende gelungen. Oder viel mehr, hatte ich es so eingerichtet, dass es klappt, da Papa mir bei unserem letzten Telefonat gesagt hatte, dass Mark und seine neue Freundin zu Besuch kommen würden.

Natürlich wollte ich unbedingt sein neuestes Trostpflaster kennenlernen. Denn auch wenn er denkt, dass ich nichts davon weiß, so habe ich doch schon von Anfang an bemerkt, dass er Marie gerne haben würde. Er meint jetzt vielleicht darüber hinweg zu sein, dass Marie nie die seine werden wird, aber er ist nicht darüber hinweg. Er wird sie sein Leben lang wollen und wenn es nur deswegen ist, weil sie mein ist. Keine andere Frau wird ihn je zufrieden stellen können.

Ich brannte darauf aus nächster Nähe mitzubekommen, wie er verzweifelt versucht, mir das Wasser zu reichen und dabei nur immer tiefer im Morast, aus dem er kommt, versinkt.

Also fuhren Marie und ich Freitagnachmittag zu meinen Eltern. Mark und seine Freundin kamen ungefähr zur selben Zeit an wie wir. Gerade, als Marie und ich aus dem Taxi stiegen, schloss sich die Eingangstür des Hauses. Als wir klingelten, standen meine Eltern, Mark und das jüngere Abbild von Marie noch im Flur.

Es ist selten, dass man mich überrascht und ich perplex bin. Aber als ich Mia sah, war ich es: Sie hatte ebenso blondes Haar wie Marie und trug es, wie auch Marie mit Anfang zwanzig, mit einem Pony, der ihre blauen Augen betonte. Sie hatte ein ebenso fein geschnittenes Gesicht wie Marie, in etwa die gleiche Größe und war ebenfalls sehr schlank. Sogar der Kleiderstil war dem, den Marie früher hatte, ähnlich: Mia trug eine ausgewaschene Jeans, ein schwarzes T-Shirt, schwarze Turnschuhe und unzählige silberne Ketten und Armreifen.

Mia war Marie mit zwanzig.

Das war so ziemlich das einzige, worauf ich nicht vorbereitet war. Ich dachte, Mark sucht sich irgendeinen Ersatz, aber ich dachte nicht, dass er sich einen Klon nimmt. Sogar das Lachen von Mia, ihre enthusiastische, fröhliche Art glichen der von Marie. Zumindest der alten Marie. Denn mittlerweile ist Marie viel ruhiger, eleganter und kontrollierter geworden. Eben so, wie man es von einer erwachsenen Frau erwartet.

Und auch wenn dies die Eigenschaften sind, die ich an Marie liebe, so bin ich doch noch nicht so alt, um vergessen zu haben, dass es einst diese Eigenschaften waren wie Mia sie hat und wie Marie sie hatte, die ich früher an Marie geliebt habe. Wahrscheinlich gefällt mir Mia deswegen so gut, weil sie mich an eine Zeit erinnert, an der Marie und ich noch jünger und frisch verliebt waren.

Mia ist für mich wirklich ein Glückstreffer. Als Schwägerin und rein platonisch wohl gemerkt. Denn nach all den Jahren hat es noch keine Frau geschafft, Maries Platz in meinem Herzen einzunehmen und da ich mein Eheversprechen ernst gemeint habe, werde ich mich auch bis zu meinem Tod daran halten.

Dennoch verstehe ich mich blendend mit Mia. Sie ist klug, wissbegierig und interessiert an allem. Ich habe mich fabelhaft mit ihr unterhalten, während Marie mit meiner Mutter in der Küche war und Mark sich irgendwo herumtrieb. Es ist wirklich schade, dass er auf Dauer Mia nicht zufrieden stellen wird können. Obwohl sie in seinem Alter ist, ist sie - wie es auch Marie war - eine Nummer zu groß für ihn.

Eines Tages wird ihm ein reiferer, intelligenterer und besserer Mann, als er es je sein könnte, Mia wegnehmen. Vielleicht aber beendet er auch die Beziehung, denn ich sehe in seinem Blick, auch wenn er meint, es würde niemand bemerken, wie sehr er nach wie vor meine Marie begehrt. Jedes Mal, wenn ich diesen Blick gesehen habe, musste ich ein triumphierendes Lächeln unterdrücken.

Ich bin gut gelaunt am Sonntag wieder nach Hause gefahren. Das Wochenende war - wie bisher alles in meinem Leben - ein voller Erfolg.

Stille WasserWhere stories live. Discover now