32; Teil 2: Herbst 2005

18 8 6
                                    

Mark

Der Sommer hat sich wohl endgültig verabschiedet. Seit drei Tagen regnet es ununterbrochen und es ist kalt geworden. Ich vermisse jetzt schon die schönen Tage, als ich mit Marie im Englischen Garten saß, wir durch die Stadt bummelten oder nach dem Kino zu Fuß durch die laue Sommernacht nach Hause liefen.

Bei so einem trüben, regnerischen Wetter macht das alles aber keinen Spaß. Ich werde mir also etwas anderes einfallen lassen müssen, damit Marie und ich auch weiterhin unsere Zeit zusammen verbringen können. Momentan schauen wir abends Filme an. Am liebsten gucke ich mit Marie Horrorfilme, weil sie sich dann immer an mich kuschelt. Ein Klischee, ich weiß. Aber es funktioniert halt.

Wobei ich selbst überrascht bin über Maries Verhalten beim Filme gucken. Wir haben zwar nur ein Sofa, aber das ist nicht gerade klein. Sie müsste also nicht so nah bei mir sitzen, wie sie es tut. Nicht, dass es mich stört. Es fällt mir nur auf. Bei dem Horrorfilm, den wir gestern gesehen haben, war es besonders deutlich zu bemerken, weil sie ihren Körper an meinen gelehnt hat.

Ich habe meinen Arm um sie gelegt und meinte aufmunternd zu ihr, dass es nur ein Film sei. Sie hat nur abwesend mit dem Kopf genickt und ich habe meinen Arm den restlichen Film über nicht weggenommen.

Ich glaube, wir kommen uns ganz langsam näher, eben weil die körperliche Distanz abnimmt. Mittlerweile begrüßen wir uns, wenn Marie abends nach Hause kommt, mit einem Kuss auf die Wange und heute Abend möchte ich wieder meinen Arm um sie legen, auch wenn wir heute keinen Horrorfilm schauen. So wie ich Marie einschätze, würde sie das nicht stören. Überhaupt scheint unser Verhältnis seit dem Kuss und der schwierigen Zeit danach viel besser und vor allem intensiver geworden zu sein.

Marie erwähnt Christian überhaupt nicht mehr. Es ist, als wären die beiden nicht mehr zusammen. Dabei hat Marie früher relativ oft von Christian gesprochen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihn noch vor Weihnachten verlässt.

Ich muss einfach geduldig und hartnäckig bleiben. Irgendwie muss es schließlich zu schaffen sein, Marie vor Christian zu retten. Ich glaube nämlich, dass er so langsam wirklich durchdreht. Als ich neulich mit Mama telefoniert habe, hat sie mir erzählt, dass Christian wohl vierzehn Stunden täglich arbeitet und dass sich Papa große Sorgen darüber macht. Aber Christian würde wohl versichern, dass das so üblich sei und dass er auch gern so viel arbeiten würde. Mama meinte, dass das bei Papa früher auch so gewesen sei. Für sie sei das eine schwere Zeit gewesen sei, weil Christian und ich noch kleine Babys gewesen wären, mit denen sie den ganzen Tag alleine war.

Papa war früher wirklich ein Idiot. Ihm war seine Karriere viel wichtiger als Mama und wir Kinder. Wir wurden erst interessant, als wir aufs Gymnasium kamen. Leider hielt sich sein Interesse bei mir nur kurz, weil meine Noten in seinen Augen zu schlecht waren. Damit hatte ich es mir verdorben, seine kostbare Zeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Ganz anders Christian.

Er war von Anfang an Klassenbester gewesen und dementsprechend gut konnte er sich bei Papa einschleimen. Ich weiß noch, wie oft Papa mit Christian ganze Wochenendausflüge irgendwo hin gemacht hat, um mit ihm irgendwelche Kirchen und Museen anzuschauen. Ich habe das als Kind nicht als schlimm empfunden, weil mich solche Dinge damals überhaupt nicht interessiert haben, aber ich hätte mir gewünscht, dass Papa mal mit mir Fußball spielen oder Rad fahren würde.
Aber für mich allein hatte er nie Zeit.

Immer war es Christian, dem er seine freien Tage und Stunden widmete und den er himmelhoch lobte und eine prächtige Karriere voraussagte. Die hat er auch stark unterstützt, indem er Christian auf Studienreisen mitnahm, sein politisches Engagement förderte und ihn am Anfang von seinem Studium dank einiger Kontakte in eine parteinahe Stiftung brachte. Christian war also schon von klein auf gefördert und auf eine große Karriere vorbereitet worden, bei der ein breites Allgemeinwissen, ein großes kulturell-geschichtliches Verständnis sowie die richtigen Kontakte einige Türen öffnen sollten.

Kein Wunder, dass Papa sich nun um seinen Lieblingssohn sorgt, da er befürchtet, dass Christians übergroßer Ehrgeiz ihn zum nervlichen Zusammenbruch führen wird. Das wäre natürlich nicht hinnehmbar, da in Christian Papas ganze Hoffnung ruht, dass unser Familienname noch mehr und immer mehr Glanz und Gloria erhält. Damit auch jeder noch so einfacher Mensch weiß, wie großartig, begnadet und erfolgreich unsere Familie ist. Als ob dass das Einzige wäre, was wichtig ist.

Ich glaube nicht einmal, dass sich die Leute groß darum kümmern, was wir machen oder in welchen Positionen wir sind. Mir jedenfalls ist es egal, was andere machen, solange keiner zu Schaden kommt. Aber Papa, seine Geschwister und Christian sind fast besessen davon, was andere über sie denken, nur weil sie selber wie die Irren darauf achten, was andere Leute machen, sagen oder denken. Alles beziehen sie auf sich und das Beste, was andere über sie denken, ist gerade gut genug.

Dabei kam Christian in seiner Klasse überhaupt nicht gut an. Er war ein Außenseiter. Aber das hat ihn nicht gestört, weil er die anderen als zu dumm und zu gering angesehen hat, als dass sie über ihn urteilen könnten. Er war schon immer überheblich, eitel und berechnend gewesen. Ihn hat immer nur das interessiert, was für ihn vorteilhaft war.

Ich verstehe nicht, was Marie an ihm findet. Sie ist schon so lange mit ihm zusammen, da müsste sie ihn doch längst durchschaut haben. Immerhin ist sie alles andere als dumm und naiv. Aber ich weiß aus Erfahrung, wie gut Christian gelernt hat, andere Menschen um seinen Finger zu wickeln. Ich würde fast sagen, er hat diese Kunst perfektioniert. Wie sonst könnte er sich ein so großes, intensives Netzwerk an Kontakten aufgebaut haben? Papas Kontakte waren dafür lediglich die Grundsteine, aus denen Christian einen Palast erbaut hat.

______________________________________

TW für das nächste Kapitel: Dort wird gegen Ende des Texts nochmal Maries Vergangenheit angesprochen. Das bedeutet auch sensbible Themen. Es wird keine Szenen dazu geben. Wegen Nennung aber dennoch eine Triggerwarnung.

Stille WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt