51; Teil 3: Frühling 2009

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Mark

Heute sehe ich Marie zum ersten Mal nach langer Zeit wieder. Allerdings nicht so, wie ich es mir lange Zeit und insgeheim vielleicht immer noch erhofft hatte.

Vor einem Monat bekam ich zum ersten Mal in meiner neuen Studentenbude in München ganz in der Nähe der Uni Post. Ich wohnte noch nicht lange dort und hatte bisher immer nur Rechnungen und Werbung erhalten.

Ich freute mich über den Brief und fragte mich, wer mir schreiben würde. Als ich die Handschrift sah, setzte mein Herz einen Augenblick aus. Es war Maries feine und schöne Schrift. Ich nahm den Brief mit in mein Zimmer und öffnete ihn mit zitternden Händen. Heraus nahm ich eine Karte, auf der eine weiße Rose abgebildet war und auf deren rechten, oberen Seite stand: Marie und Christian heiraten. Ich starrte die Vorderseite der Karte an.

Ich glaube, ich hatte noch nie so viele unterschiedliche Empfindungen wie in diesem Moment. Wie konnte Marie mich ohne ein Wort verlassen, sämtliche Anrufe und Nachrichten von mir unbeantwortet lassen und mir dann, eineinhalb Jahre später eine Einladungskarte zu ihrer Hochzeit schicken?! Ihrer Hochzeit mit Christian!

Dabei wollte sie ihn doch einmal verlassen. Sie hatte ihn doch sogar verlassen. Oder hatte sie mich nur hereingelegt? Sich mit mir amüsiert, um sich noch einmal jung zu fühlen, um auch als ältere Frau einmal einen jüngeren Mann zu haben, und sich dabei Christian die ganze Zeit als späteren Ehemann warmgehalten?

Ich schleuderte die Karte auf den Boden, zog mir meine Joggingsachen an und ging laufen.

Ich musste einen klaren Kopf bekommen. Während ich in den Englischen Garten joggte, dachte ich andauernd an Maries und meine gemeinsame Zeit zurück.

Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, an Maries damaliger Zuneigung auch nur im Geringsten zu zweifeln. Marie war mir immer so wahrhaftig und authentisch vorgekommen.

Natürlich hatte ich bemerkt, wie schwer es ihr gefallen war, mit Christian einen Schlussstrich zu ziehen. Aber ich hatte mir gedacht, dass es daran läge, dass die beiden so lange zusammen waren und deswegen der Abschied viel schwerer fiel. Nun aber musste ich annehmen, dass sie ihn überhaupt nicht verlassen wollte. Die ganze Zeit über nicht. Sie hatte mich nur benutzt. Für was auch immer.

Wenn sie zumindest einen anderen heiraten würden, dann könnte ich mir vielleicht noch sagen, dass es eben nicht mit uns hatte sein sollen.

Aber doch nicht Christian.

Wie konnte sie einen Mann heiraten, der überheblich, eiskalt und berechnend ist.

Er wird sie zu einem Hausmütterchen machen und ihr jede Entfaltungsmöglichkeit nehmen. Sie wird nur ein Schatten neben ihm sein.

Ich verfluchte Christian und die merkwürdige Verbindung, die er zu Marie hatte. Doch ich sah ein, dass ich keine Chance haben würde, Marie vor ihrem Schicksal zu bewahren.

Nach meinem einstündigen Lauf beschloss ich, nicht zur Hochzeit zu gehen. Ich wollte es nicht mit ansehen müssen, wie Christian mal wieder das bekam, was er wollte und wie Marie den vielleicht größten Fehler ihres Lebens beging.

Als ich Mama am Telefon sagte, dass ich nicht zur Hochzeit kommen würde, rief mich noch am selben Abend Vater an und teilte mir mit, dass ich als Bruder anwesend sein müsse.

Da ich meinen Vater kannte und er nicht zulassen würde, dass ich in der Familie für Gerede und Aufsehen durch meine Abwesenheit sorgen würde, fügte ich mich.

Ich bin aber davon überzeugt, dass es meinem Vater und vielleicht auch Mama eigentlich egal ist, ob ich bei der Hochzeit bin oder nicht. Sie wissen beide, wie schlecht das Verhältnis zwischen Christian und mir ist, auch wenn sie nie etwas dazu gesagt haben.

Aber durch ihr Verhalten, durch das, was sie sagten und was sie nicht sagten, haben sie das Feuer der Feindschaft zwischen uns Brüdern geschürt.

Mittlerweile denke ich, dass Christian und ich uns vielleicht nicht ganz so sehr verachten würden, wenn sich unsere Eltern wirklich lieben würden. Denn dann hätten sie uns nicht dafür benutzt, ihre subtilen Kriege durch uns auszutragen.

Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie Vater vor Mama immer mit Christians schulischen und sozialen Leistungen prahlte, als wären diese nur ihm zu verdanken und als wäre Christian nicht auch Mamas Kind.

Dafür verbrachte sie mehr Zeit mit mir als mit Papa und hielt ihm immer vor, was für ein liebes und hübsches Kind ihr Sohn doch sei und was für ein wundervoller, fürsorglicher und bescheidener Mann einmal aus ihm werden würde.

Und nun sitze ich hier in dieser kitschigen Kirche, in der nicht einmal ein Drittel der Hochzeitsgäste Platz hat. Wohin ich auch blicke, sehe ich nur Verwandte von mir oder junge Leute, die so versnobt aussehen, dass sie Christians Freunde sein müssen.

Maries Eltern sind nicht da und auch sonstige Verwandte von ihr sehe ich nicht. Obwohl sie es eigentlich nicht verdient hat, habe ich Mitleid mit Marie, die nicht von ihrem Vater zum Altar geführt werden wird. Stattdessen wird mein Vater sie dorthin begleiten.

Dann ertönt auf einmal das alt bekannte Hochzeitslied auf der Orgel und alle Gäste erheben sich. Ich werfe noch einen Blick auf Christian, der wirklich gut in seinem schwarzen Anzug aussieht und gebannt auf den Eingang starrt, bevor auch ich mich wie alle anderen zum Eingang umwende, um die Braut zu erwarten.

Ich hatte einen Monat Zeit um mich auf das vorzubereiten, was nun kommt.

Ich dachte, dass ich nach eineinhalb Jahren über Marie hinweg wäre, aber wenn es so ist, warum schlägt mein Herz dann wie verrückt und woher kommt dann diese Übelkeit?

Ich erinnere mich daran, wie ich Marie vor acht Jahren zum ersten Mal sah. Wie sie ins Wohnzimmer kam und sie mit ihrer fröhlichen, lebenslustigen Ausstrahlung den ganzen Raum einnahm.

Nun sehe ich sie als Braut. Ihre zierliche Hand, die ich so viele Male gehalten habe, ruht auf dem Unterarm meines Vaters. Ihre Haut ist blässer, als ich sie in Erinnerung hatte. Dennoch sieht das weiße Kleid an ihr bezaubernd aus. Ihr Haar ist mit einer silbernen Spange hochgesteckt, was sie älter aussehen lässt als sie ist. Oder ist sie einfach nur in der Zeit, in der ich sie nicht gesehen habe, gealtert? Auf ihrer Stirn haben sich kleine Falten gebildet, die früher nicht da waren. Es müssen Kummer- oder Sorgenfalten sein. Was ist in der Zeit passiert, seit sie mich verließ?

Jetzt ist sie nur noch ein paar Schritte von mir entfernt, beinahe kann ich ihren Duft einatmen. Auf einmal wirft sie mir einen kurzen Blick zu, den keiner außer mir bemerkt haben kann.

Und für einen Moment gerate ich in Versuchung, zu ihr zu gehen und sie von dieser fürchterlich steifen Veranstaltung zu befreien.

Aber der Moment vergeht und während sich die Gäste wieder setzen, ich den Pfarrer die Worte herunterrasseln höre, die er schon unzählige Male zuvor gesagt haben muss, hasse ich wieder einmal mein Alter, das es mir unmöglich gemacht hat, Marie die Sicherheit, die mit diesem ganzen Tam-Tam eigentlich verbunden ist, zu bieten und die sie sich so gewünscht haben muss, da ihre eigene Familie sie ihr nicht geben konnte.

Wie könnte ich es ihr je verübeln, sich nun eine eigene Familie aufzubauen? Wie könnte ich ihr noch böse sein, für all die Schmerzen und Tränen, die ihr plötzliches Verschwinden mir bereitet haben, wenn sie an ihrem Hochzeitstag, der doch der glücklichste ihres Lebens sein sollte, so unendlich verloren und einsam aussieht?

Stille WasserWhere stories live. Discover now