33; Teil 2: Herbst 2005

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Marie

Ich lebe seit vier Monaten mit Mark zusammen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir schon viel länger zusammen unter einem Dach wohnen und als würde diese Zeit nie zu Ende gehen. Ich hätte ehrlich gesagt nichts dagegen. Seit diese eine Sache zwischen uns geklärt ist, verstehen wir uns noch besser als zuvor, auch wenn ich eine Steigerung nicht für möglich gehalten hätte.

Wir schauen meistens zuhause Filme an, gehen kaum mehr mit Freunden aus und wenn wir außer Haus sind, dann, um ins Kino oder Theater zu gehen.

Es ist schön, meine Zeit hauptsächlich mit Mark zu verbringen. Er gibt mir ein gutes Gefühl. Bei ihm fühle ich mich ganz ruhig, verstanden und aufgenommen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er so gut zuhören kann, immer einen Ratschlag hat und der geduldigste Mensch ist, den ich kenne. Manchmal denke ich, dass es eigentlich unfair ist, so einen tollen Charakter und gleichzeitig auch so ein unverschämt gutes Aussehen zu haben.

Oft sitzen wir noch eine Weile auf dem Sofa, nachdem wir einen Film angeschaut haben. Ich mag das Gefühl, wenn sein Arm freundschaftlich auf meinen Schultern liegt und ich liebe den Duft von seinem Parfum, das ich nur riechen kann, wenn ich mich an ihn lehne. Es war wirklich ein Glück, dass er ausgerechnet nach München für seinen Zivi wollte und wir so zusammenziehen konnten. Von allen möglichen Mitbewohnern ist er sicherlich der Beste.

Nicht nur, dass ich mit ihm einige meiner schönsten Momente in meinem Leben erlebt habe, sondern ich habe auch mit niemand anderen je so viele, so intensive und so tiefgründige Gespräche geführt. Mark ist einfach unglaublich. Ich kenne niemanden sonst in seinem Alter, der so reif ist.

Wenn ich an Christian zurückdenke, wie er war, als wir uns kennen gelernt haben, dann war er weit davon entfernt, Marks Qualitäten zu haben und dabei war er sogar noch gute zwei Jahre älter als Mark. Und auch meine anderen Ex-Freunde kommen nicht einmal ansatzweise an Mark heran.

Er ist wirklich etwas Besonderes und ich bin froh, ihn als Freund zu haben. Zumal ich bei ihm sicher sein kann, dass mein Geheimnis gut aufgehoben ist, dass er es niemanden erzählen wird und dass er mich nicht nur versteht, sondern auch mit mir mitfühlt.

Er ist der erste Mensch, dem ich von meinen Eltern erzählt habe. Ich habe mir schon seit einiger Zeit vorstellen können, ihn von diesem Teil meines Lebens wissen zu lassen. Als ich ihm wirklich davon erzählt habe, war ich dennoch überrascht von mir selbst, weil es viel schneller passiert ist, als ich erwartet hätte.

Aber es ist gut, dass ich es getan habe. Nicht nur, weil ich mich seitdem so leicht wie noch nie in meinem Leben fühle, sondern auch, weil unsere Beziehung damit eine noch vertrautere Ebene angenommen hat, die nie wieder durch irgendetwas zerstört werden kann. Selbst wenn wir später keinen Kontakt mehr haben sollten, wird eine Bindung bleiben.

Wir haben zu viel geteilt, um je wieder ohne den anderen ein ganzer Mensch zu sein. Denn so wie ich die einzige auf der Welt bin, der er je von seinem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater und den problematischen Charakterzügen Christians, unter denen er lange Zeit leiden musste und noch immer leidet, erzählt hat, so ist auch er der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der von meinen Eltern weiß. So wie er sich mir geöffnet hat, so habe ich mich ihm geöffnet und ihm alles von Anfang an erzählt.

Wie ich geboren wurde, meine Eltern überfordert waren, weil sie noch so jung waren und mit keinem Kind gerechnet hatten, wie sie von meinen Großeltern zur Ehe gedrängt wurden. Wie mein Vater letztlich zu trinken begann, lange bevor ich in einem Alter war, in dem man die Tragweite dessen erkennt. Wie Mamas ohnehin schon immer launische Art depressive Züge annahm und wie sie letztlich vor zwei Jahren zu jenem Unfall kam, der eigentlich keiner gewesen ist.

Es fiel mir erstaunlich leicht, das alles zu erzählen und Mark hat die ganze Zeit über neben mir gesessen, mir aufmerksam zugehört und nur hin und wieder meine Schulter mitfühlend gestreichelt. Als ich nichts mehr zu sagen hatte und mir nur stille Tränen übers Gesicht liefen, nahm er mich in den Arm und hielt mich so lange, bis ich eingeschlafen war.

Stille WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt