14; Teil 2: Winter 2004

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Marie

Wo ist die Zeit hin? Wie können so viele Monate vergehen, ohne dass ich mich richtig an sie erinnere? Alles, was in diesem Zeitraum geschehen ist, kommt mir wie hinter Milchglas vor. Das einzige, an das ich mich klar erinnere, ist der Tag, an dem ich aus den USA zurückgekommen bin. Sobald ich mein Handy wieder eingeschaltet habe, habe ich einen Anruf von meiner Tante erhalten. Völlig außer sich hat sie mir mitteilt, dass meine Mutter im Krankenhaus läge. Sie sei die Treppe hinuntergestürzt. Ihre Verletzungen seien lebensgefährlich.

Ich wusste, dass die Geschichte so nicht stimmen konnte, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn meine Tante begann mir sofort vorzuwerfen, eine schlechte, egoistische Tochter zu sein. Statt in meiner Heimatstadt zu studieren und bei meinen Eltern zu wohnen, sei ich einfach fort gegangen. Und dann, als meine Mutter den Unfall gehabt hätte, wäre ich im Urlaub gewesen und hätte mich amüsiert.

Meine Tante, die Schwester meines Vaters hat mich noch nie gemocht. In ihren Augen hatte ich meine Eltern, vor allem meinen Vater, verraten. Ich weiß, was sie mir eigentlich vorwarf: Nicht auf meine Mutter aufgepasst zu haben. Wir wussten alle wie fragil sie war, auch wenn niemand darüber redete.

Meine Verwandten verurteilten mich. Als wäre ich schuld an dem Leid meiner Eltern. Doch ich allein war es, die zumindest versucht hat, ihnen zu helfen. Niemand ist mir dabei zu Hilfe gekommen. Alle meine Vorschläge wurden von meinen Eltern und Verwandten abgelehnt. Ja, sie lachten sogar darüber, als wäre ich ein kleines Kind, das man nicht ernst nehmen könnte.

Die Versuche meiner Mutter zu helfen, scheiterten daher letztlich genauso kläglich, wie meinen Vater zu einer Entziehungskur zu bewegen.

Deshalb war ich voller Hoffnung, dass sie nach dem Unfall mit einer Therapie anfangen würden. Doch weit gefehlt. Sie meinten, dass ich ja nun wieder in Deutschland wäre und sie sich daher keine Sorgen mehr um ihr einziges Kind machen müssten. Deswegen wäre nun alles wieder in Ordnung. Ich weiß noch genau, wie sie mir das beim Abendessen lächelnd erzählten. Ich verschluckte mich und bekam einen Hustenanfall. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie so den Unfall erklärten und mich damit indirekt auch als Schuldige darstellten.

Kein Wunder also, dass ich die nächsten Wochen von den verschiedensten Verwandten angerufen wurde, die mir vorwarfen, undankbar, schwierig und herzlos zu sein.

Als ich meinen Eltern weinend davon erzählte, meinten sie, ich würde übertreiben und sei zu sensibel geworden.

Aus Angst vor einem weiteren Unfall meiner Mutter, war ich die letzten Monate viel zuhause. Mich wundert es, dass Christian mich nicht gefragt hat, warum ich so viel zuhause bin oder warum ich nicht so häufig wie früher auf Nachrichten und Anrufe reagiert habe. Es scheint ein Charakterzug von ihm zu sein, dass er keine Fragen stellt, sondern abwartet, bis der andere von sich ausspricht. Aber man kann über manche Dinge nicht von sich aussprechen.

In jener schweren Zeit bin ich oft abends in meinem früheren Kinderzimmer gelegen und habe mir gewünscht, dass Christian hier wäre. Doch was hätte er dann von mir gedacht? Ich erinnere mich noch genau über das Gespräch mit ihm über Veranlagung und Gene. Wahrscheinlich würde er denken, dass ich zwangsläufig wie meine Eltern werden würde. Dann würde ich nicht mehr zu seinen Zukunftsplänen passen.

Von daher ist es vielleicht ganz gut, dass er mich nicht nach meinen Eltern oder Sorgen fragt. Sonst würde ich ihm wahrscheinlich alles erzählen und das wäre bestimmt eine riesige Belastung für ihn und unsere Beziehung. Es ist manchmal besser, über bestimmte Dinge zu schweigen.

Stille WasserWhere stories live. Discover now