16; Teil 2: Winter 2004

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Marie

Vor zwei Jahren hat er mir versprochen, dass er mich nicht mehr alleine lassen würde. Dass er das eine Jahr, in dem wir uns wegen der Distanz so selten sehen konnten, auf keinen Fall wiederholen wolle, weil er mich so vermisst hätte. Und jetzt geht er nach Berlin. Er hat überhaupt nicht gefragt, wo ich am liebsten hinmöchte. Er meinte nur, dass ich mich doch in Hamburg beworben hätte und wir uns dann ja jedes Wochenende sehen könnten. Dabei habe ich mich nur in Hamburg beworben, weil man sich eben fürs Volontariat an vielen verschiedenen Stellen bewerben sollte.

Aber eigentlich wollte ich die ganze Zeit nach München. Das war schon immer meine Lieblingsstadt und ich möchte auch generell lieber im Süden bleiben. Und so bin auch nicht ganz so weit weg von zuhause, wenn mal wieder etwas sein sollte. Außerdem habe ich von allen Stellen die Zusage zuerst aus München erhalten. Es war doch klar, dass ich die nicht ausschlage. Immerhin geht es um meine berufliche Zukunft und ich möchte mich nicht andauernd nach Christian richten müssen. Zumal ihm so wenig daran liegt, was ich möchte.

Deswegen werde ich in vier Monaten nach München ziehen. Auch wenn das bedeutet, dass ich Christian nicht jedes Wochenende sehen werde. Aber so ist es dann eben.

Dafür werde ich mit Mark zusammenwohnen, was bestimmt lustig wird. Wir verstehen uns ziemlich gut. Er hat sich toll entwickelt. Ich war total baff, als ich letztes Wochenende mit Christian zu ihm nach Hause gefahren bin. Ich habe Mark drei Jahre lang nicht gesehen. Schon als Teenager war er ein süßer Junge gewesen, der die Herzen seiner Klassenkameradinnen hatte höherschlagen lassen. Aber nun ist er zu einem richtig gutaussehenden, jungen Mann herangewachsen, dessen blondes, leicht lockiges Haar in Kombination mit seinen braunen Rehaugen unglaublich attraktiv aussieht. Die schwarze Brille, die er, wie er mir erzählt hat, seit einem Jahr trägt, lässt ihn nicht nur älter aussehen, sondern betont auch sein ohnehin schon schönes Gesicht. Außerdem hat er die angenehmste und sanfteste Stimme, die ich je gehört habe.

Ich war völlig durcheinander, als er mich mit seinen zärtlichen braunen Augen angeschaut hat. Es kam mir vor, als stände ein völlig Fremder vor mir. Gleichzeitig war dieses Gefühl der Vertrautheit vorhanden, das man hat, wenn man einen Menschen schon lange Zeit kennt, selbst wenn man mit ihm nicht besonders viel zu tun hatte.

Mark saß im Wohnzimmer und schaute sich Friends auf Englisch an. Er wirkte viel älter als achtzehn und ich fühlte mich plötzlich wie ein unsicherer Teenager, als er mich anlächelte, auf mich zukam und umarmte. Zum Glück kam in diesem Moment Christian ins Zimmer. Er rettete mich dadurch davor, wie eine totale Idiotin dazustehen, weil mein Herz wie irre klopfte und ich das Gefühl hatte, dass wenn ich etwas zu Mark sagen würde, es kompletter Unsinn sein würde.

Aber dann war es Mark, der letztlich am nächsten Tag kompletten Unsinn redete. Er meinte, wir könnten in München zusammenziehen, weil er dort seinen Zivi machen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Als Mark mir erzählt hatte, dass er in München seinen Zivi macht, hatte ich mich sehr gefreut, weil ich dann dort nicht komplett allein sein würde. Doch als er dann mit dem Zusammenziehen anfing, war ich komplett irritiert: Klar, es wäre nur eine WG, aber trotzdem wäre es komisch. Immerhin ist er der Bruder meines Freundes. Ein extrem attraktiver und netter Bruder.

Außerdem bin ich eine Frühaufsteherin und bleibe abends dafür nicht allzu lange wach. In Marks Alter will man aber doch abends noch bis früh in den Morgen feiern – vielleicht sogar in den eigenen vier Wänden. Ich war also schon dabei Marks Angebot höflich abzulehnen, als Christian, der bei uns stand und unsere Unterhaltung schweigend mitverfolgt hatte, meinte, Marks Idee sei nicht schlecht. Sein kleiner Bruder könnte so ein Auge auf mich haben.

Ich habe mich angestrengt, Christian nicht anzuschauen, weil ich Angst hatte, mein Blick könnte mich verraten. Wie konnte er so etwas nur sagen? Hatte er Angst, ich würde fremdgehen oder dachte er, ich bräuchte in München einen Wachhund, damit ich nichts anstellte? Noch jetzt kann ich nicht fassen, wie Christian dazu kam, so etwas zu sagen.

Ich atmete einmal tief durch. Dann sagte ich, dass ich natürlich gernemit Mark zusammenziehen würde. Christian lächelte selbstgefällig. Ich lächelte zurück und fügte in Gedanken hinzu: Du wirst schon sehen, wie wenig ich mich bewachen und kontrollieren lasse.

Stille WasserWhere stories live. Discover now