27; Teil 2: Sommer 2005

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Mark

Ich bin immer noch wie in einem Traum. Natürlich habe ich mir gewünscht, dass wir uns bei der Party näherkommen und selbstverständlich habe ich auch versucht, Marie die entsprechenden Signale zu vermitteln. Trotzdem war ich nicht sicher, ob es mir gelingen würde. Immerhin war sie eine Woche bei Christian und dass hätte die beiden wieder enger zusammenbringen können. Zum Glück war das nicht der Fall.

Marie hat nicht besonders viel von Berlin erzählt und das wenige, das sie erzählt hat, war nicht besonders erfreulich gewesen. Christian muss sich wenig Zeit für sie genommen haben und Berlin scheint Marie überhaupt nicht gefallen zu haben. Für meine Ohren hörte sich das nach einer mindestens kleinen Beziehungskrise an.

Christian macht es mir auch wirklich zu leicht. Er ist einfach zu wenig selbstkritisch, sonst würde er begreifen, dass man auch etwas für seine Partnerin tun muss, um sie zu halten. Vor allem, wenn sie so attraktiv und klug wie Marie ist. Aber er ist viel zu überzeugt von sich selbst, als zu verstehen, dass die Konkurrenz nicht schläft. Pech für ihn, Glück für mich.

Bestimmt sehen es manche als verwerflich an, dass ich meinem eigenen Bruder die Freundin ausspannen möchte. Aber zum einen spanne ich sie ihm nicht aus, sondern biete ihr die Möglichkeit, sich für mich zu entscheiden und zum anderen ist mir mein Liebesglück wichtiger als eine ohnehin schon immer schwierige Beziehung zu meinem Bruder. Natürlich würde Christian mich hassen und mich wie Dreck behandeln, wenn ich mit Marie zusammenkäme. Aber das ist mir egal. Damit kann ich leben. Christian hat mich seit ich denken kann, wie einen Idioten behandelt. Für ihn war ich immer der „dumme Schönling", der außer gut aussehen nichts bieten kann.

Ich weiß noch, wie er meine schlechten, schulischen Leistungen jahrelang beim Abendessen mit meinem Vater diskutiert hat. Sicherlich hält auch deswegen Papa nicht allzu viel auf mich. Christian war immer der bessere Schüler, der engagiertere und der strebsamere von uns zwei gewesen.

Aber er war es auch, der seine eigenen Leistungen immer heraus posaunt hat, während er stets auf meine Verfehlungen aufmerksam gemacht hat.

Mama hat zwar versucht, Christians Verhalten zu unterbinden und auch meine Leistungen etwa im Sport hervorzuheben, aber leider umsonst. In Papas Augen war ich ein Loser und Christian hat eifrig an diesem Bild mitgewirkt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es ihm in erster Linie darum ging, mich schlecht zu machen oder ob sein Verhalten nicht dadurch motiviert war, dass er sich selbst in gutem Licht darstellen wollte. Christian wollte schon immer in allem der Beste sein, was zur Folge hatte, dass er nie sonderlich beliebt in der Schule gewesen ist. Leider hat ihn das nie gestört oder zum Nachdenken angeregt. Stattdessen versucht er bis heute mich möglichst schlecht und sich möglichst gut dastehen zu lassen.

Es ist mir daher reichlich egal, wie er sich fühlt oder wie er auf mich zu sprechen ist. Als ob es ihn je interessiert hätte, wie es mir geht oder was ich über ihn denke. Außerdem geht es hier nicht um ihn und mich. Es geht um Marie.

Es geht um diese wundervolle Person, die es einfach nicht verdient hat, dass ihr Freund keine Zeit für sie hat. Dass er sie wie einen Sportwagen behandelt, mit dem er vor anderen angeben kann. Marie hat es verdient, dass man sie liebt, weil sie ist wie sie ist.

Ich glaube, im tiefen Inneren wünscht sich Marie mich als ihren Freund. So wie sie geschaut hat, als ich letzten Sonntag am Flughafen stand, so schaut man nur, wenn ein Wunsch, den man sich selbst nicht zugestanden hat, in Erfüllung geht. Dementsprechend lang war auch unsere Umarmung zur Begrüßung.

Obwohl die Woche, seit Marie wieder hier ist, nichts Besonderes war und wir uns verhalten haben wie immer, so lag doch eine Spannung in der Luft, die früher nicht so deutlich zu spüren gewesen war. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Spannung irgendwie entladen würde.

Und tatsächlich ist es gestern Abend passiert. Wir haben uns geküsst. Wir haben uns wirklich geküsst. In der Realität, nicht in einem meiner Träume.

Ich kann seitdem an nichts anderes mehr denken. Hin und wieder muss ich mich kneifen, damit ich weiß, dass ich nicht in einem Traum bin, auch wenn es sich danach anfühlt.

Ich wünsche mir, dass sich der Kuss schnellstmöglich wiederholt. Am liebsten wäre ich gestern Marie hinterher gerannt, aber ich hatte Angst, dass das zu viel wäre. Ich dachte, dass es besser wäre, wenn wir beide Zeit hätten, den Kuss auf uns wirken zu lassen.

Außerdem weiß ich nicht, was sonst noch passiert wäre. Und jedes Mehr wäre definitiv zu viel auf einmal gewesen, denn es hätte Marie das Gefühl vermitteln können, ich würde nur ins Bett mit ihr wollen. Dabei ist das definitiv nicht der Fall.

Ich hoffe einfach, dass sie demnächst mal aus ihrem Zimmer kommt und wir über den Kuss reden können. Ich möchte ihr unbedingt sagen, was für eine Bedeutung er für mich hatte. Sie soll nichts Falsches denken. Es macht mich nervös, dass ich bis jetzt noch nichts von ihr gehört habe. Immerhin ist es schon nach Mittag. Am besten gehe ich eine Runde joggen und gebe ihr die Zeit, sich zu richten und zu frühstücken, ohne dass sie mir dabei über den Weg laufen muss.

Stille WasserTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang