12. Der leichte Anflug von Heimweh

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„Oh, he!", ruft er lachend aus. „Ich habe doch noch gar nicht geklopft." Seine noch immer erhobene Faust winkt hilflos in der Luft herum, als würde sie etwas zum Daranklopfen suchen.

Erleichtert schlage ich mir die Hand an den Kopf. „Ich ... ich wollte das Taxi noch erwischen", keuche ich atemlos auf. „Ich wusste ja nicht, dass du es bist."

Verwundert hebt er die Augenbrauen und lässt die Hand langsam sinken, um damit auf sein wartendes Fahrzeug zu zeigen. „Du brauchst Taxi?"

Ich nicke und halte mir die Hand an meinen Bauch, denn mein Magen krampft sich zu einem weiteren wütenden Knurren zusammen.

Valentinos Blick wandert zu meiner Hand und seine Augen weiten sich verständnisvoll. „Hunger?"

„Und wie", stöhne ich auf. „Ich wollte eine Pizza bestellen, aber der Prospekt war vermutlich aus einer Zeit, wo man noch Faxe geschickt hat."

„Faxe? Warum nicht anrufen?"

Ich winke ab und schüttle den Kopf. „Der Alte an der Rezeption wollte das Ding trotzdem behalten und ich hatte keine Lust auf Diskussionen." Ich stocke kurz und sehe den Mann vor mir an. „Oder meintest du, ich sollte dich anrufen?"

Er zuckt mit den Schultern und seine Hände fuchteln wieder auf diese typisch italienische Art vor seinem Körper herum. „Wenn du Taxi brauchst, ja. Ich habe gesagt, ruf mich an."

Ich lache ungläubig auf. „Ich habe deine Nummer gar nicht, Valentino. Und ich weiß nicht, für welches Taxiunternehmen du arbeitest. Ich habe inzwischen schon einige ausprobiert, aber–"

Er lehnt einen Arm an den Türrahmen und zwinkert mir mit einem kessen Lächeln zu. „Aber ich bin der Beste, eh?"

Oh Mann, dieser Charme ist regelrecht entwaffnend. Wahrscheinlich kann sich Valentino Fiore kaum vor Angeboten retten, wenn er Menschen so leicht um den Finger wickelt.

Ich schüttle meinen benebelten Kopf und schließe für zwei Sekunden meine Augen, um mich nicht ablenken zu lassen. „Was tust du überhaupt hier?"

Valentino lacht begeistert auf, als hätte ich ihn an etwas Wichtiges erinnert und wühlt in der vorderen Tasche seiner eng anliegenden Jeans.

Irgendwie kann ich diesen engen Hosen ja normalerweise nichts abgewinnen, aber an ihm sieht sie wirklich fantastisch aus.

Allerdings könnte er wahrscheinlich auch die Klamotten meines Opas tragen und sähe darin atemberaubend aus.

Ist das wohl so ein italienisches Ding?

Endlich zieht er seine Hand wieder aus der Tasche und hält sie mir entgegen. „Hier!"

Zwischen seinem Daumen und Zeigefinger glänzt ein goldener Ring und ich reiße verblüfft meine Augen auf.

Damit habe ich nun wirklich nicht–

„Habe ich gefunden! Hast du verloren in meine Auto", erklärt er strahlend.

Ach fuck! Mein Ehering.

„Äh ... danke", presse ich hervor und nehme ihm den Ring ab. Mein Reflex will das goldene Metall über meinen linken Ringfinger schieben, doch mir wird rechtzeitig bewusst, dass er dort nicht mehr hingehört.

Also trete ich zurück in das Zimmer und lege den Ring auf dem kleinen Tischchen neben meinem Bett ab.

„Wohin willst du?", fragt Valentino, als ich zurück zur Tür komme, wo er wieder lässig am Rahmen lehnt.

Ich zucke mit den Schultern. „Ich hatte gehofft, du hast einen guten Tipp für mich? Gerade bin ich so hungrig, dass ich auch einen Bären essen würde."

Nachdenklich tippt er mit dem Zeigefinger an sein Kinn. „Bär wird schwierig. Es gibt nicht viele Bären in Texas."

Ich lache auf. „Kann Mariella vielleicht so gut kochen, wie sie Kaffee machen kann?"

Beim Gedanken an ein leckeres, italienisches Essen läuft mir regelrecht das Wasser im Mund zusammen.

„Mariella?" Er schüttelt den Kopf. „No, no, no. Ich habe andere Idee. Komm!" Er winkt mir auffordernd zu und setzt sich in Bewegung zu seinem Fahrzeug, während ich eilig den kleinen Schlüssel für das Motelzimmer greife, die Tür hinter mir zuziehe und ihm folge.

•••

Unsere Fahrt wird dieses Mal musikalisch begleitet von Taylor Swift.

Der Musikgeschmack dieses Mannes ist absonderlich, aber auch höchst amüsant für mich. Allein aus diesem Grund muss ich ihn später unbedingt daran erinnern, mir seine Nummer oder zumindest die seines Taxiunternehmens zu geben.

„Wo warst du vor Texas?", fragt Valentino auf einmal, sein Blick im Rückspiegel auf mich gerichtet.

Ich räuspere mich und lege meine Hände an den Beifahrersitz vor mir. „Seattle. Ich komme aus Seattle."

Er runzelt die Stirn. „Seattle?" Sein Akzent lässt den Namen meiner Heimatstadt irgendwie lustig klingen.

„Im Staat Washington, oben im Nordwesten." Ich fuchtle mit den Händen herum, wie ein Lehrer, der vor einer Landkarte steht.

„Ahh", macht er verständnisvoll. „Und wie ist ... Seattle?"

Ich seufze und nehme die Hände wieder herunter. „Ganz anders als Texas", antworte ich, während ich nach draußen sehe.

Inzwischen ist es wieder stockdunkel und man kann nur erkennen, dass die Landschaft, an der wir vorbeifahren, flach und karg zu sein scheint, während in der Ferne die Lichter einer größeren Stadt – ich vermute mal Houston – leuchten.

„Seattle ist nasser."

„Nasser?"

Ich nicke. „Ja, es regnet sehr viel mehr als hier."

„Oh", macht er. „Aber wenn viel Regen, ist auch viel grün."

Lächelnd sehe ich wieder zu ihm nach vorn. „Das stimmt. Grün ist es außerhalb der Stadt definitiv. Man kann tolle Wandertouren machen in den umliegenden Nationalparks."

„Italia ist wie Seattle und Texas", erklärt er fröhlich und seine Finger trommeln wieder lustig auf dem Lenkrad herum. „Nur besseres Essen."

„Warst du denn schon mal in Seattle?", frage ich neugierig.

Er schüttelt ganz selbstverständlich den Kopf. „Nein, aber Italia ist grün und warm."

Ungläubig glotze ich ihn an und pruste vor Lachen los.

Gerade noch hatte ich einen leichten Anflug von Heimweh, doch Valentino Fiore schafft es, sogar das mit seinen unbewusst lustigen Aussagen verfliegen zu lassen.

Er setzt den Blinker und lenkt das Fahrzeug auf einen Parkplatz, wo er den Motor ausschaltet. „Da sind wir", verkündet er mit dem üblichen Strahlen in seinen dunklen Augen. „Und du bist besser hungrig und durstig, meine Freund."

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