5. Die erste, schmerzhafte Erkenntnis in meinem neuen Leben

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Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so schnell so warm wird. Es ist gerade einmal Anfang März und in Seattle war ich um diese Zeit immer froh, wenn das Thermometer es gerade so in den zweistelligen Bereich schaffte.

Jetzt läuft mir der Schweiß den Nacken hinab, während ich in der heißen Sonne zurück zum Motel stapfe. Ich sollte nachher unbedingt daran denken, mir Sonnencreme zu kaufen.

In meinem kleinen Zimmer nehme ich als Erstes eine erfrischende Dusche und bin froh, mir den Präriestaub abzuwaschen. Mit sauberen Klamotten und leerem Magen stehe ich wenig später an der Rezeption, an der ich gestern Abend eingecheckt habe und drücke erneut beherzt auf den altmodischen Klingelknopf.

Anders als gestern Abend erscheint heute eine Frau mittleren Alters in einer ungebügelten, dunkelblauen Bluse und betrachtet mich über den Rand ihrer Brille, während sie eine Tageszeitung zusammenfaltet. „Ja?"

„Guten Morgen", grüße ich freundlich und stütze meine Arme auf dem Tresen vor mir ab. „Könnten Sie mir vielleicht einen Tipp geben, wo ich hier in der Nähe einen Supermarkt oder sogar ein Einkaufszentrum finden könnte?"

„In Hempstead drüben ist ein Walmart", lässt mich die Frau wissen und öffnet mit einer schwungvollen Bewegung die Zeitung in ihrer Hand.

Ich schaue nach links und rechts und beuge mich mit einem charmanten Lächeln zu ihr. „Und ... hm ... gibt es hier eine Bushaltestelle?"

Wieder beäugt sie mich über den Rand ihrer Brille, eine Augenbraue skeptisch erhoben. „Mister, die Bushaltestelle ist weiter entfernt als der Walmart."

Ich nicke langsam und hebe beschwichtigend meine Hände. „Okay, dann ... ist es also fußläufig?"

Die Frau schnaubt einmal abfällig und schüttelt den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren. „Wenn Sie das sagen, Mister."

Da sie ohnehin gerade nur mit ihrer Zeitung beschäftigt ist, gebe ich meinem Verlangen nach und rolle einmal mit den Augen. „Hätten Sie vielleicht eine Karte für mich, damit ich mich nicht verlaufe?"

Ihr scheint egal zu sein, ob ich sie sehe oder nicht, denn sie rollt ganz offensichtlich mit den Augen hinter ihrer Brille und starrt mich wieder an. „Soll ich Sie vielleicht noch hinfahren?", schnauzt sie. „Nehmen Sie doch ein Taxi."

Augenblicklich wandern meine Gedanken zu meiner gestrigen Taxifahrt zurück. Zwar war der Fahrer sehr amüsant, aber Zuverlässigkeit scheint nicht seine Stärke zu sein. Allein die Aussage des Rezeptionisten, der gestern Abend hier und weitaus freundlicher als die jetzige Person war, hat mir gezeigt, dass es ratsamer wäre, die Dienstleistungen dieses Taxifahrers nicht mehr in Anspruch zu nehmen.

Auch wenn er mich vor einer Rauchvergiftgung bewahrt hat, aber ich gehe einmal davon aus, dass das eher ein glücklicher Zufall war.

Und wenn nicht, wäre es noch weiser, ihm nicht erneut zu begegnen.

„Danke, ich gehe gern zu Fuß", widerspreche ich und schaue suchend auf dem Tresen herum. „Ich brauche wirklich nur eine Karte, damit ich–"

„Ganz wie sie wollen", meckert die Frau vor sich hin, zieht eine zerknitterte Papierkarte hervor und schiebt sie mir hin. „Wenn Sie an der Straße sind, einfach nach links und dann immer geradeaus. Aber ist bestimmt ein langer Spaziergang bis dorthin."

Höflich lächelnd falte ich die Karte zusammen und stopfe sie mir in die hintere Hosentasche. „Das macht mir nichts aus, vielen Dank."

Fest entschlossen verlasse ich das Motel und mache mich auf den von ihr angewiesenen Weg.

Das ist schon der zweite Spaziergang für heute. Bisher läuft es doch ganz gut mit meinem neuen Hobby.

•••

Neunzig Minuten später frage ich mich, warum ich eigentlich so naiv bin und nicht aus meinen Fehlern lerne.

Okay, sonst hat Eve mich von solchen Dummheiten abgehalten, doch Eve ist nicht hier. Sie war wie diese Grille für Pinocchio, nur dass sie nicht auf meiner Schulter saß, sondern meistens nur mit den Augen gerollt oder direkt die Führung übernommen hat.

Jetzt komme ich vollkommen erschöpft und durchgeschwitzt auf dem Parkplatz des Walmart an und spüre meine Füße kaum.

Die erste, schmerzhafte Erkenntnis in meinem neuen Leben: Sneakers, die cool aussehen und im Schuhgeschäft bequem sind, sind noch lange nicht dafür geeignet, fünfeinhalb Kilometer durch unwegsames, sandiges Gelände zu spazieren. Schon gar nicht, wenn einem alle zwanzig Meter ein Kilogramm Sand in die Socken rutscht.

„Verdammte Scheiße", brumme ich und hocke mich in den Vordachschatten des Supermarktgebäudes. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ziehe ich mir den ersten Schuh samt Socke vom Fuß, kippe den Sand aus und wackle mit den wunden Zehen.

Keine Ahnung, wie ich den ganzen Weg wieder zurückgehen soll. Und das noch vollgepackt mit Dingen, die ich eingekauft habe. Vielleicht rufe ich mir für den Rückweg doch ein Taxi. Es wird ja noch mehr Taxifahrer als nur diesen einen in dieser Gegend geben.

Mühevoll zwänge ich meine Füße wieder in die Sneaker, nachdem ich den Sand so gut wie möglich auf dem Beton entleert habe, suche mir einen Einkaufswagen und betrete das sich paradiesisch anfühlende, klimatisierte Supermarktgebäude.

Kurz überlege ich, ob ich vielleicht einfach meine Schuhe und Socken wieder ausziehen und barfuß auf den kühlenden Fliesen herumlaufen könnte, doch da mein Magen inzwischen lautstark anmerkt, dass er leer ist, entscheide ich mich gegen ein Hausverbot und humple durch die um diese Zeit spärlich besuchten Gänge.

In der Auswahl meiner Einkäufe muss ich bedenken, dass ich aktuell über keinerlei Kochmöglichkeiten verfüge, aber zumindest einen Kühlschrank in meinem Motelzimmer habe. Nachdem ich also etwas Brot und Knabberzeug in meinen Wagen geladen habe, mache ich mich auf die Suche nach den Kühlregalen.

Lautes Scheppern gefolgt von Lachen lässt mich in meiner Bewegung innehalten und den Kopf in die Richtung drehen, aus der der Krach gekommen ist.

Dort, im Gang den Konservendosen, steht doch allen Ernstes der italienische Taxifahrer von gestern Abend und ist gerade dabei, kichernd einer Dose Mais, die über den Boden rollt, hinterherzulaufen.

Erschrocken reiße ich die Augen auf, schiebe meinen Wagen einen Gang weiter und linse nur unauffällig um die Ecke, in der Hoffnung, dass er mich nicht entdeckt oder gar wiedererkannt hat.

Hinter ihm steht ein großer, blasser, muskulöser Mann in einem Basketballtrikot und lehnt lässig an einem der Regale. „Lass das doch liegen, Tino", meint er mit einem Augenrollen. „Es wird schon irgendwer wegräumen."

Der Taxifahrer schüttelt den Kopf, schnappt sich die Dose und räumt sie ordentlich zurück ins Regal, seine Hände richten die Dose gerade an den anderen Maiskonserven aus. „Nein, Jeffrey. Wir machen das wieder gut."

Der rotblonde Mann stellt sich dicht hinter ihn und legt seine Hand auf die Hüfte des Taxifahrers. „Ich kann auch was gut machen", murmelt er und bekommt ein Kichern als Antwort, ehe der Mann, der mich gestern beim falschen Motel rausgelassen hat, sich umdreht und ihm die Hand auf seine breite Brust legt.

„Aber nicht im Supermarkt. Ich muss jetzt arbeiten und du auch. Wir sehen uns heute Abend." Er schlängelt sich unter dem trainierten Arm seines Gegenübers hindurch und kommt den Gang entlang auf mich zu, was mich eilig zu meinem Wagen flitzen und interessiert den Inhalt eines der Regale daneben inspizieren lässt.

Er muss ja nicht denken, dass ich ihn und seinen Freund beobachtet habe.

„Du bist eine Spaßbremse, Valentino", ruft Jeffrey aus dem anderen Gang und ich höre nur wieder das Kichern des Taxifahrers, das plötzlich verdächtig nahe klingt.

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