3. Die unerwartete Unterkunft in Keine-Ahnung-Wo

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Müde und verwirrt starre ich auf den Aushang mit dem Namen und der Adresse des Motels, an dem mich der lustige Taxifahrer abgesetzt hat.

Von wegen „Das kenne ich". Das war wohl eher ein Fall von „Wird schon passen und wenn nicht, ist es mir auch egal, weil ich Feierabend habe und ihn einfach dort stehen lasse".

Danke für nichts.

Ein Blick auf die etwas in die Jahre gekommene Landkarte, die mir der alte Rezeptionist freundlicherweise zur Verfügung stellt, offenbart mir, dass dieses Motel zumindest ungefähr ähnlich weit von der Universität entfernt ist wie die Unterkunft, die ich ursprünglich gebucht hatte.

„Haben Sie denn noch ein Zimmer frei?", möchte ich von dem Mann wissen, als ich mich schließlich meinem Schicksal ergebe.

Ich bin einfach nur erschöpft und jetzt noch einmal hier im Nirgendwo auf ein Taxi zu warten, das mich an den richtigen Ort bringt, oder womöglich zurück nach Seattle oder wahlweise nach Mexiko – dieses Abenteuer würde ich dann doch lieber auf einen anderen Tag verschieben.

„Einer unserer Langzeitgäste ist heute ... hm ... überraschend abgereist, also haben wir tatsächlich noch ein Zimmer frei", informiert er mich, wendet sich dem Regal mit unzähligen kleinen Fächern zu und holt einen Schlüssel mit einem messingfarbenen Anhänger hervor.

Mit erhobener Augenbraue mustere ich ihn, beschließe aber, dass ich diese Aussage – wenigstens heute – nicht mehr hinterfragen werde. „Wie teuer wäre es denn?"

„Heute Nacht oder wie lange?"

Kurz überlege ich, ob ich wohl morgen in mein ursprüngliches Motel umziehen werde oder es sinnvoller ist, einfach hierzubleiben. „Wenn ich gleich für eine Woche reserviere, kann ich dann trotzdem eventuell früher abreisen? Ich trete hier in der Nähe eine neue Stelle an und bin langfristig auf der Suche nach einer Wohnung."

Der Mann zuckt mit den Schultern. „Wenn Sie gehen müssen, müssen Sie gehen. Das passt schon."

Erleichtert atme ich auf, als er mir einen Preis nennt, der durchaus in meinem Budget liegt. „Dann reservieren Sie ruhig für eine Woche. Vielen Dank." Ich schiebe ihm meinen Ausweis und meine Kreditkarte über den Tresen und wähle währenddessen auf meinen Handy die Nummer des anderen Motels an, um zumindest dort meine Buchung zu abzusagen und so möglichen Stornierungskosten zu entgehen.

Als nach dem achten Klingeln noch immer niemand den Anruf entgegennimmt, gebe ich auf und unterschreibe den Meldeschein, den der Rezeptionist mir bereits zusammen mit dem Schlüssel hingelegt hat.

„Zimmer neunzehn ist hier draußen einmal nach links und dann ganz am Ende des Gebäudes", lässt er mich wissen. „Sie haben einen Fernseher und auch ein Badezimmer mit Dusche. Im Innenhof gibt es einen Pool, aber der ist auf Grund von Wartungsarbeiten zur Zeit geschlossen."

„Vielen Dank." Ich stecke meinen Ausweis und mein Handy wieder ein und mache mich auf den Weg in meine neue, wenn auch vollkommen ungeplante Unterkunft.

Zu meiner Erleichterung ist das Zimmer zwar schlicht eingerichtet, aber erscheint mir sauber und angenehm. Es verfügt über ein Doppelbett, den erwähnten Fernseher, einen schmalen Kleiderschrank und sogar einen kleinen Kühlschrank. Direkt angrenzend finde ich ein Badezimmer mit einer winzigen Duschkabine.

Ich schiebe meinen Koffer an die Wand neben dem Schrank und lasse mich auf das Bett sinken.

Auch der zweite Anruf bei dem anderen Motel wird nicht beantwortet und so schreibe ich eine kurze E-Mail, dass ich niemanden telefonisch erreichen konnte, aber meine Reservierung nicht in Anspruch nehmen werde. Zumindest habe ich auf diese Weise einen schriftlichen Beweis, dass ich abgesagt habe.

Als ich auf die Uhr sehe, stelle ich fest, dass es in Seattle bereits nach Mitternacht ist, also schreibe ich Eve nur eine Nachricht.

Eve

Taxifahrt war abenteuerlich.
Bin jetzt im Motel.
Melde mich morgen.

Anschließend schiebe ich das Handy und den Schlüssel mit dem Messinganhänger in meine Hosentasche und trete nach draußen.

Das Motel liegt an einer Landstraße, die um diese Zeit sehr wenig befahren zu sein scheint. Vom Umfeld kann ich so gut wie nichts erkennen, was vermutlich daran liegt, dass die Unterkunft mitten im Nirgendwo liegt.

Ich stecke meine Hände in die Taschen meiner Chinohose, gehe parallel zur Landstraße und lasse meine Sneakers durch das raschelnde Gras der Prärie streifen, während die Lichter der wenigen beleuchteten Zimmer des Motels hinter mir immer kleiner werden.

Als ich nach oben sehe, erfüllt sich mein stiller Wunsch von vorhin: unzählige Sterne zieren den schwarzen Himmel über mir und ein deutlich erkennbares, helles Band erstreckt sich von einem Horizont zum anderen.

In meinem Kopf höre ich noch immer das Lachen des italienischen Taxifahrers und wie er „Amore!" ruft und lache selbst laut auf.

Eve wäre außer sich vor Wut und hätte vermutlich einen hysterischen Anfall bekommen, doch sie ist nicht hier. Und so stehe ich hier mitten in der Prärie in Keine-Ahnung-Wo, weil mir Keine-Ahnung-Was passiert ist und lache aus vollen Halse in den Nachthimmel.

Ich glaube nicht an Schicksal und ich glaube auch nicht, dass es absichtlich war, aber tief in mir kann ich dem lustigen Taxifahrer nicht böse sein, dass er mich genau an diesen Ort gebracht hat. Vielmehr bin ich ihm dankbar dafür, dass er meinen ersten Abend in der Fremde damit zu einer denkwürdigen Erinnerung gemacht hat.

Richtungswechsel | ✓Where stories live. Discover now