1. Die Fast-Schlägerei zwischen einer Businesslady und einem Opa

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Mit einem Schmunzeln beobachte ich die beiden Leute, die sich seit etwa fünfzehn Minuten eine Art Wettkampf am Gepäckband liefern.

Die Frau, die ich in ihrem förmlichen Hosenanzug auf Mitte dreißig und unverheiratet schätze, bemüht sich noch weitaus mehr um gespielte Gleichgültigkeit als ihr Kontrahent.

Dieser scheint locker schon die sechzig überschritten zu haben und versucht gar nicht erst seine Entschlossenheit zu verbergen, dass ihm der vorderste Platz am Gepäckband zwischen all den anderen wartenden Fluggästen zusteht.

Während sie sich auf ihren Pumps mit jedem Auftauchen eines neuen Koffers auf dem silbernen Band wieder an ihn heranpirscht, um ihm seine Position streitig zu machen, bleibt er breitbeinig und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an Ort und Stelle stehen und lässt niemanden hindurch.

Das ein oder andere Mal hat sie ihn bereits angesprochen, ob er zumindest ein wenig Platz für andere Wartende machen könnte, was er mit einem ignoranten Kopfschütteln quittierte.

Ich selbst hingegen lehne an einer der großen weißen Säulen der Flughafenhalle und warte einfach ab. Irgendwann werden schon alle Koffer abgeholt sein und ich habe heute ohnehin nichts mehr vor.

Plötzlich kommt Bewegung in die Wartenden, als eine neue Fuhre Gepäck aus dem mysteriösen Loch auf das Band gespuckt wird.

Die Geschäftsfrau und der Opa stürzen beide gleichzeitig nach vorn, als sie ihre Gepäckstücke zwischen unzähligen schwarzen und grauen Koffern auszumachen scheinen.

Ich lache hinter vorgehaltener Hand, als sie nach einem silbernen Hartschalenkoffer greift, an dem sich die Schlaufe einer braunen Ledertasche verfangen hat, denn die Hände des alten Mannes umklammern fest ebenjene Tasche und er denkt gar nicht daran, seine Eroberung loszulassen.

„Jetzt lassen Sie doch los!", schreit die Frau ihn an, während sie an ihrem Koffer reißt und gleichzeitig mit der anderen Hand gegen seine Schulter drückt.

„Das ist meine Tasche!", schreit er erbost zurück und zerrt noch stärker an der Ledertasche. „Stehlen Sie etwa gerade meine Tasche?"

In einem wilden Gerangel schaffen die beiden es doch irgendwie, die Teile voneinander zu lösen und während er noch weiterhin vor sich hinmeckert und dabei wild den Kopf schüttelt, strafft sie ihre Schultern, zieht den Griff ihres Koffers aus und eilt mit schnellen Schritten davon, als hätte sie sich nicht gerade vor einer Gruppe von etwa siebzig Menschen mit einem alten Mann duelliert.

Ich schüttle ungläubig den Kopf, ziehe mein Handy hervor und schreibe Eve eine Nachricht.

Eve

Bin gut angekommen.
Habe eine Fast-Schlägerei
zwischen einer Businesslady
und einem Opa beobachtet.

Sie kann daraus bestimmt eine witzige Anekdote für ihre Kolumne machen.

Die Antwort folgt prompt.

Eve

Lass mich raten.
Gepäckband?

Mist! Dir kann man auch
nichts neues erzählen.

Ich kann nur gut beobachten,
das ist alles. Wie ist Texas?

Die Gepäckhalle ist schon mal
spannend. Über den Rest kann
ich noch nicht so viel sagen.

Es wird dir gefallen. Meld dich,
wenn du im Motel bist <3

Als ich wieder aufschaue, stelle ich fest, dass mein schwarzer Koffer mit dem türkisfarbenen Band am Griff bereits an den übrigen Wartenden vorbeigezogen und im Begriff ist, wieder in das mysteriöse Kofferloch zu verschwinden. Ich haste nach vorn zum Ende des Bandes und bekomme ihn gerade so noch zu packen, ehe ich eine weitere Runde abwarten muss.

Während ich die Halle durchquere, suche ich auf dem Handy die Bestätigung des Motels heraus, das ich bereits vor ein paar Wochen gebucht hatte.

Die Reservierung brachte einige Diskussionen mit Eve mit sich, denn sie hasst Motels. Sie findet sie schmuddelig und glaubt, dass sie nur als Stationen für Kriminelle und Affären dienen.

Ich hingegen fand, dass die kleine Absteige, die ich im Internet gefunden hatte, einen ganz eigenen Charme hat. Die Bewertungen waren okay und ich habe auch schlichtweg weder Lust noch Geld, mir ein Hotel mit Frühstücksbuffet und Zimmerservice zu nehmen. Ein Motel wird mir als Unterkunft vollkommen ausreichen, bis ich mich eingelebt und eine eigene Wohnung gefunden habe.

Und Eve ist schließlich in Seattle geblieben. Sie muss ja nicht mehr mit mir zusammen wohnen.

Mit dem Namen und der Adresse des Motels auf dem Display meines Handys trete ich nach draußen in die laue Abendluft. Ich schließe meine Augen und atme zum ersten Mal texanische Luft ein.

Ich habe keine Ahnung, was mich hier erwarten wird, aber das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit legt sich wie ein warmer Schal um mich.

„He!", ruft da eine Stimme. Als ich meine Augen öffne und in die Richtung schaue, aus der die Stimme kam, steht ein paar Meter entfernt ein junger Mann mit dunkelbraunen Haaren in einem eng anliegenden, kurzärmeligen Hemd mit dem Rücken an ein Taxi gelehnt da und raucht eine Zigarette. „Sie dürfen hier nicht schlafen", erklärt er mit dem Hauch von einem Akzent in seiner Stimme.

Ich lächle beschämt und ziehe meinen Koffer hinter mir her, um näher an ihn heranzutreten. „Das hatte ich auch nicht vor, aber ich bin zum ersten Mal hier und es ist ganz anders als dort, wo ich herkomme. Es riecht ganz anders. So ... warm."

Er legt den Kopf in den Nacken, atmet den Rauch seiner Zigarette durch die Nase aus und drückt den Rest der Kippe am Bordstein aus, ehe er den Stummel in einen nahegelegenen Mülleimer wirft.

Diese Handlung verwirrt mich zutiefst, denn im Allgemeinen sind Raucher recht achtlos mit ihrem Müll.

„Es riecht nach Flugzeug", erklärt er trocken mit dem Akzent, den ich als italienisch einordne. „Warm riecht anders."

Ich schnaube und zucke mit den Schultern. „Nun, vor meinem Abflug roch es auch nach Flugzeug, aber kalt. Ich finde es trotzdem schön."

Er schüttelt lachend den Kopf. „Sie haben keine Ahnung. Sie brauchen Taxi?"

Ich nicke und schaue noch einmal auf mein Handy, um ganz sicher die richtige Adresse zu haben. „Ich müsste einmal zum Sleep Inn in ... äh ... Waller."

Der Taxifahrer nickt eifrig und kommt auf mich zu, um sich sofort meinen Koffer zu greifen. „Kenne ich. Ist gut, ich habe bald Feierabend."

Ich runzle die Stirn und beobachte verwundert, wie er den Kofferraum seines Taxis öffnet und mühelos mein Gepäckstück darin verstaut.

Was hat sein Feierabend mit meinem Motel zu tun?

„Kommen Sie, kommen Sie", winkt er mich heran und steigt bereits auf der Fahrerseite ein.

Ich klettere auf die Rückbank und schnalle mich an, während er eine Playlist auf seinem Telefon aktiviert und uns gekonnt aus der Parklücke manövriert.

Während der Mann fröhlich zu den Klängen von Eros Ramazotti vor sich hinpfeift, rollen wir allmählich vom Flughafengelände.

Richtungswechsel | ✓Where stories live. Discover now