Kapitel 27

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Gilles Sicht

Eine weitere Woche war vergangen. Einfach so. Und nichts hatte sich verändert; weder die Scheußlichkeit des Essens, noch dass Sam und ich übereinander herfielen, sobald sich die Tür hinter ihm schloss oder der Umstand, dass ich immer noch hier drinnen gefangen war. Naja, zumindest fast nichts hatte sich verändert. Von dem Baum, den ich durch das Deckenfenster sehen konnte, waren mittlerweile alle Blätter abgefallen. Der Winter schien vor der Tür zu stehen. Eine ständige Erinnerung an mich, dass für alle Menschen außerhalb dieses kleinen Raums sich die Welt weiterdrehte. Für sie war das hier ein weiterer normaler Tag. Ich hatte zwar keine Ahnung, welchen Wochentag wir hatten, aber ich stellte mir einfach vor, dass es Mittwochmorgen war, alle sich auf den Weg zur Arbeit machten, zum Brunchen trafen, zur Schule gingen. Was man halt so tat, wenn man nicht als Geisel gefangen genommen war.

Doch für mich stand die Zeit still. Immer und immer wieder durchlebte ich den gleichen Tagesablauf und so sehr ich es auch zu überspielen versuchte, nagte es immer mehr an meiner Psyche.

Was Sam wohl tat, während er nicht hier war? Manchmal vergaß ich, dass was für mich der spannendste Teil des Tages war, für ihn nur ein nebensächlicher Punkt in seinem Tagesablauf war. Er hatte ein Leben außerhalb dieses Raumes.

„Guten Morgen." Als hätten meine Gedanken ihn herbeibeschworen, trat Sam genau jetzt durch die Tür. Mittlerweile bildete ich mir ein, ihn schon so gut zu kennen - was natürlich eigentlich Schwachsinn war - um zu wissen, dass er ein ganz schöner Morgenmuffel war und so früh oft patziger als sonst eh schon drauf war. Eigentlich also kein guter Zeitpunkt, um ein Gespräch zu starten, aber was machte es schon aus, er würde so oder so genervt sein.

Als er sich zur mir rüber beugte, um mich zu küssen, zog ich meinen Kopf zurück. Stirnrunzelnd lehnte er sich wieder zurück. „Was machst du, wenn du nicht hier bist?" Die Furchen auf seiner Stirn wurden noch etwas tiefer. „Was?"

Ich zuckte die Schultern. Ich wusste doch selbst nicht so genau, was ich mir von seiner Antwort erhoffte. Ich wollte einfach nur mal wieder eine Erinnerung an das normale Leben haben. Aber bevor ich das bekam, würde ich vermutlich eh erstmal von ihm angeschnauzt werden. Egal, ein Versuch war es trotzdem wert. „Komm schon, erzähl mir irgendetwas. Ich gehe hier drinnen ein." Ich wollte nicht so flehend klingen, aber ich konnte es nicht verhindern.

Er blieb so lange still, dass ich schon befürchtete, er war so genervt von mir, dass er gleich wieder gehen würde. Aber dann fing er doch an: „Na gut. Morgens liege ich eigentlich nur rum und schaue Serien. Nachmittags...ja, weiß ich nicht. Halt jeden Tag etwas anderes. Gestern habe ich was gelesen." Übertrieben skeptisch zog ich die Augenbrauen hoch und bekam dafür einen leichten Schlag in die Seite. „Lass das." Zu meiner Überraschung sagte er das mit einer ganz kleinen Spur von Belustigung.

„Und was habe ich so in der Welt verpasst? Oder sind alle Nachrichten nur permanent mit Bildern von mir geflutet?" Ich hatte es als Witz gemeint, aber er verzog sein Gesicht auf eine Art, die ich nicht ganz deuten konnte. Vielleicht hatte er Mitleid mit mir, weil in Wirklichkeit sich niemand darum scherte, dass ich weg war. „Ach, das übliche politische Geplänkel, ich hör da nie hin. Oh, und die Queen ist tot." „Was?! Wow." Verwirrt sah er mich an. „Bist du nicht Franzose? Warum interessiert dich das?" „ Ich darf ja wohl überrascht sein, dass sie tot ist." Augenrollend schüttelte er den Kopf. „Sie war doch schon mindestens 200 Jahre alt, das war ja wohl keine Überraschung."

So schön es auch war, eine Unterhaltung mit ihm zu führen, ohne dass er aggressiv wurde, so hatte sie doch nicht den gewünschten Effekt. Statt mich wieder etwas normaler zu fühlen, wurde mir nur nochmal schmerzlichst meiner Umstände bewusst und plötzlich musste ich gegen Tränen ankämpfen. Ich würde gar nicht erst versuchen, sie vor Sam zu verstecken, es war doch eh egal, was er dachte. „Ich pack das nicht mehr Sam." Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die kühle Wand.

Für einen Moment war es wieder still. Ich wäre nicht überrascht gewesen, würde Sam einfach aufstehen und gehen. Weswegen ich umso erstaunter war, als er nach meiner Hand griff. Zögerlich verschränkte er unsere Finger miteinander, als hätte er Angst, dass ich gleich meine Hand wegziehen würde. Ich schlug meine Augen wieder auf und war noch schockierter, als ich sah, dass der sonst so selbstsichere Sam eine gewisse Unsicherheit ausstrahlte.

„Erzähl mir, was du vermisst." Und noch eine Überraschung. Wollte Sam gerade ernsthaft etwas über mich wissen? Mein Blick fiel auf unsere Hände, während ich überlegte, wo ich anfangen sollte. Die Frage war wohl eher, was ich nicht vermisste.

„Am meisten vermisse ich wohl Margie." Ich fing an, ihm alles von ihr zu erzählen, wie wichtig sie mir war und dass sie oft mehr meine Familie war als meine Eltern. Die ganze Zeit hörte er mir aufmerksam zu und irgendwann hörte ich auf, damit zu rechnen, dass er gleich einfach gehen würde, weil es ihm zu nervig wurde.

Ich erzählte ihm auch von Kenneth und den anderen und merkte, wie gut es mir tat, über zuhause zu reden. Hin und wieder brachte es mich zwar dazu, noch ein, zwei Tränen zu verdrücken, aber letztendlich war es eine Erleichterung.

Als Araminas Name fiel, merkte ich, wie Sam aufhorchte: „Ist das die, mit der du auf der Party getanzt hast?" Ich bejahte. „Ist sie deine Freundin?" Sein Ton war so beiläufig - zu beiläufig - dass dieses Mal ich es war der aufhorchte: „Und wenn es so wäre?" Seine Miene blieb ausdruckslos und auch sein Schulterzucken stand für seine Gleichgültigkeit.

Aber mir entging nicht, wie sein Kiefer sich anspannte. Wenn ich es nicht besser wüsste... ,,Ja, das mit ihr und mir geht schon ganz lange. Es läuft einfach super. Meine Eltern lieben sie auch total. Nicht nur einmal haben sie mich schon gefragt, wann ich ihr endlich einen Antrag machen." Gut, das war jetzt etwas dick aufgetragen, aber das schien Sam gar nicht aufzufallen, er starrte weiterhin so verbittert auf die Wand, dass ich in ein unkontrollierbares Glucksen ausbrach. Verwirrt sah er mich jetzt doch wieder an. „Oh mein Gott, Sam. Du bist eifersüchtig!"

Fill me with poisonМесто, где живут истории. Откройте их для себя